Wenn drei mal täglich spitze Schreie aus einem Hotelzimmer dringen, kann das vielerlei Gründe haben…

Gebannt erwarten wir den Termin bei dem Chiropraktiker in Constitución. Auf seinem Flyer steht etwas von „schmerzfrei nach nur einer Behandlung“, was uns schwer nach Quacksalberei klingt. Dennoch wagen wir den Versuch, denn von unserem Wohl und Wehe hängt nun ein mal unser gesamtes Projekt ab.

Ayurveda?

Beim Pferdemetzger

Im Hinterzimmer des örtlichen Masseurs gibt sich Chiropraktiker Mario einmal in der Woche in Stelldichein als fliegender Wunderheiler. Nach kurzer Begutachtung des mehr schlecht als recht per Google Translate ins Spanische übersetzten MRT-Befunds macht er sich ans Werk. Der Mann muss im letzten Leben ein Pferdemetzger gewesen sein. Auch Foltermeister und Scharfrichter kämen hier in Betracht. Mit allerhand Sumo- und Freestyle-Griffen, die mir von meinem Orthopäden durchaus geläufig waren, zieht er die Wirbelsäule wieder in Form. Ein Massageapparat, mit dem man sicher auch Baugruben ebnen könnte, macht die Muskeln wieder locker. Dringend nötig, denn die sind mittlerweile härter als Stahlbeton, was einen nicht unerheblichen Teil der Schmerzen verursacht.

Black & Decker für die Massagebank

Die unter Flammen auf die Haut aufgesetzten Gläser und deren Abziehen unter einem satten Ploppen – dem Geräusch einer Weinflasche beim Entkorken nicht unähnlich – bedeuten vermutlich einen Ausflug ins Reich von Ayurveda. Noch eine Reizstrombehandlung, ein paar mehr Sumo-Griffe und ein Rezept für zwei Schmerzmittel, schon war ich entlassen.

Spitze Schreie aus dem Hotelzimmer

Wider erwarten fühle ich mich deutlich besser, die Schmerzen sind lange nicht mehr so fies wie noch beim Eintreffen in Constitución. Munter mache ich auf unserem Hotelzimmer die von einem Therapeuten auf YouTube empfohlenen Übungen – unter höllischen Schmerzen. Die spitzen Schreie mögen für die Bewohner der umliegenden Zimmer befremdlich klingen. Einerlei, es dient einem guten Zweck.

In den folgenden Tagen schlendern wir mehrfach durch die sympathische, weil sehr ruhige und beschauliche 40.000-Einwohner-Stadt. Immer wieder beobachten wir Pelikane, jene an Land tollpatschig wirkenden Großvögel mit den viel zu groß geratenen Schnäbeln. Im Flug hingegen beweisen sie sich als zielsichere Jäger, die präzise und meist erfolgreich im Sturzflug nach ihrer erspähten Beute ins Wasser hinabstoßen.

Meterhoch branden die Brecher des Pazifik an die schwarzen Sandstrände. Dazwischen jene Basaltfelsen, die zu einem der beliebtesten Fotomotive des Landes geworden sind und abertausenden Vögeln als Nist- und Brutplatz dienen.

Tote und Verletzte in Valparaiso und Santiago

Im Fernsehen läuft auf Dauerschleife Liveberichterstattung der Unruhen in Santiago. Schockierende Bilder von brennenden U-Bahnen, Apotheken und Geschäften, Straßenschlachten mit der Polizei, das Aufmarschieren des Militärs und eine stetig steigende Zahl von Toten und Verletzten beunruhigen uns. Am Abend wird es laut vor unserem Hotel. Ein Demonstrationszug zieht sich durch unsere Straße. Die friedlich Marschierenden recken Transparente in die Höhe, schwenken Flaggen und skandieren Parolen, die wir nicht verstehen. Die Proteste haben mittlerweile das ganze Land erfasst, bis in die kleinsten Städte. Sie richten sich gegen die Regierung und prangern vermeintliche soziale Ungerechtigkeit, Reformstau, unzureichende Bildungs- und Gesundheitssysteme sowie die stetig steigenden Preise an. Wir diskutieren mit unserem Hotelwirt über die Ursachen. Die vielen Flüchtlinge aus Venezuela, Argentinien, Ecuador, Kolumbien und Peru seien der Grund. Sie werden besser behandelt als die einheimische Bevölkerung und bekommen alles in den Rachen geworfen, ist er sich sicher. Ich habe ein solches Lamento in einem anderen Land schon einmal gehört. Welches war das noch gleich???

Ich habe kaum mehr Schmerzen. Ob das meinen Übungen oder dem Pferdemetzger geschuldet ist, am Schlafen in einem richtigen Bett oder der Motorrad-Abstinenz für nunmehr vier Tage liegt, wissen wir nicht. Damit beschließen wir, uns weiter gen Süden zu wenden und peilen als nächste Station Chillán an.

In der Ruhe liegt die Kraft

Unsere Route führt uns an der Pazifikküste entlang. Immer wieder tun sich faszinierende Ausblicke auf den Ozean auf, allenthalben fahren wir an malerischen, felsengesäumten Buchten entlang. Bei einem touristischen Hinweisschild biegen wir ab auf eine kurze Schotterpiste hinab zu den Arcos de Calán. Die Piste endet mit einer ausgewaschenen Steilpassage, die uns an einem paradiesischen Stück Pazifik ausspuckt. An der von vorgelagerten Felsen gesäumten Bucht brechen sich die übermannshohen Wellen, die vom Ozean hereinrollen und schießen in einer weißen Gischt in die Höhe.

Ein Naturschauspiel, von dem wir kaum genug bekommen. In der Höhe kreisen Adler, die die Sonne ebenso zu genießen scheinen wie wir. Der schwarze Sand setzt einen perfekten Kontrast zu den schäumenden weißen Wassermassen. Einige hundert Meter weiter finden wir die beiden Natursteinbögen (Arcos) die die Elemente aus dem Basalt herauserodiert haben. Es ist bereits spätnachmittags und wir haben immer noch 120 km bis Chillán vor uns. So reißen wir uns los und fahren wenig später auf der Suche nach einer Unterkunft in der wenig attraktiven Kleinstadt ein. Andrea steht vor mir an der Ampel, als rechts von mir ein einheimischer Autofahrer die Scheibe herab kurbelt, in unsere Fahrtrichtung deutet, mit dem Zeigefinger wedelt und uns bedeutet, dass wir nicht weiterfahren sollen.

Mitten in der Straßenschlacht

Just in diesem Moment wird die Ampel grün, Andrea gibt Gas. Mir wird mulmig, denn an der nächsten Kreuzung sehen wir bereits gewaltbereite, vermummte Demonstranten, die sich mit der Polizei beharken. Weitere Autonome kommen die Straße herunter gerannt. Pflastersteine und Flaschen fliegen. Einige davon schlagen wenige Meter hinter uns ein. Wir ignorieren alle Ampelphasen und Verkehrsregeln und geben Vollgas. Nach dem Überfahren dreier roter Ampeln waren wir zumindest aus dem engsten Brennpunkt der Straßenschlachten heraus. Schwein gehabt. Welch ein Kontrastprogramm zur friedlichen Szenerie am Pazifik!

Wir übernachten schließlich außerhalb in einem Motel am Rand der Panamericana. Ziemlich tot hier, aber das ist uns im Moment sehr lieb. Am nächsten Morgen führt uns unser Weg weiter Richtung Lautaro bei Temuco. Unser lieber Freund Fritz mit chilenischen Wurzeln hat jede Menge Familie Im Land. Er hat uns den Kontakt zu seiner Nichte Fernanda in Lautaro vermittelt. Sie ist Kinesiologin und hat sich bereiterklärt, sich meiner anzunehmen und mir zu helfen so gut es geht.

Die tosende Gischt nässt unsere Kamera ein

Wir peilen die Laja-Fälle an, jene Wasserfälle, mit denen tosend der Rio Laja 35 Meter in die Tiefe stürzt, um 50 Kilometer weiter stromabwärts in den Rio Bio-Bio zu münden. Trotz der heftigen Gischt, die uns immer wieder die Kameras einnässt erhaschen wir einige faszinierende Fotomotive.

Um die Etappen nicht zu groß werden zu lassen übernachten wir noch einmal in Angol, einer – wie wir dachten – verschlafenen Kleinstadt. Nach Einbruch der Dunkelheit hören wir aus nicht allzu großer Distanz eine brüllende Meute, dumpfe Schläge auf Metall und Glas und immer wieder laute Detonationen. Dazwischen Polizeisirenen und Autos, die mit quietschenden Reifen davonbrausen. Um die Mauern mit Stacheldraht, mit denen unser kleines Motel eingefriedet ist, sind wir verdammt dankbar. Am nächsten Morgen sehen wir die Zerstörungen, die ein wütender Mob angerichtet hat. Umstürzte, ausgebrannte Autos, verbrannte Autoreifen und immer wieder Brandspuren auf dem Asphalt von nächtlichen Straßensperren.

…doch es geht auch friedlich

Dass Protest auch anders geht, zeigt eine Gruppe von Jugendlichen, die am Rand einer Kreuzung Chile-Flaggen schwenken, ihre Transparente in die Höhe recken und zu lauter Musik Samba tanzen. Leider, so haben wir den Eindruck, geht diese sympathische Form der Opposition gegen die Regierenden in den Medien völlig unter.

Friedlicher Protest mit viel Musik

Die Vulkane grüßen

Unsere Etappe führt uns weiter über eine wunderschöne, kurvige und kaum befahrene Bergstrecke hinüber nach Lautaro. Von weit her grüßen die schneebedeckten Vulkankegel der Sierra Nevada herüber. Der äußerst markante Vulkan Llaima ähnelt den Bildern, die wir vom Kilimandscharo in Afrika kennen.

Vulkan Llaima

Noch kurz bevor die Läden wegen der Proteste gegen 16 Uhr schließen, erhaschen wir noch einige Vorräte und beziehen einen Campingplatz auf einem Hügel weit oberhalb der Stadt. Der Ausblick über Lautaro hinweg auf die Berge ist fantastisch.

Geht es weiter oder heißt es aufgeben?

Doch nach drei Fahr-Tagen sind die Schmerzen im alten Ausmaß wieder zurück. Damit ist klar: Hauptauslöser ist das Motorradfahren. Die Erkenntnis ist ein Rückschlag für unsere weiteren Pläne. Doch wir hoffen auf Fernandas Hilfe und setzen auf ihre magischen Hände. Schließlich soll unsere Tour nicht schon ganz zu Beginn jäh enden.

Kilometer: 1978