Ein Horrorszenario tut sich auf, als sich unser Motorradkorso dem Schauplatz eines schweren Unfalls nähert. Wir sind die ersten, die am Unfallort eintreffen. Nun heißt es Überblick verschaffen, kühlen Kopf bewahren und die teils schwer verletzten Beteiligten versorgen.

Die Zusammenarbeit unter uns klappt gut, einige stellen ihre Motorräder quer und schalten die Warnblinkanlage ein, um den Unfallort abzusichern. Andere haben bereits einen Notruf mit exakter Angabe des Unfallorts und Zahl und Verletzung der Beteiligten abgesetzt.

Andrea und ich kümmern uns um einen jungen Mann, der stark blutet, apathisch im Schock umherwandert und seine Schwester als Unfallverursacherin beschimpft. Ich packe gerade eine sterile Wundauflage aus, als ich plötzlich von hinten gestoßen werde. „Geh weg da, ich will für Instagram Fotos machen.“ Die junge Frau, die mich anpöbelt, drückt sich an mir vorbei und filmt dem verängstigten Unfallopfer ins Gesicht. Es bedarf all meines Kampfgewichts, um die lästige Gafferin loszuwerden und mich wieder um den Verletzten zu kümmern.

Volle Konzentration

Das alles fällt uns nicht leicht. Es bedarf voller Konzentration, Herr der Lage zu bleiben und nun das Richtige zu tun. Wir versorgen die stark blutende Wunde des jungen Manns mit einem Druckverband und reden beruhigend auf ihn ein.

Doch plötzlich antwortet der nicht mehr und kippt um. Immer wieder Übergriffe der Paparazzi, die wir abwehren müssen. Wir kontrollieren die Atmung, ein Indikator dafür, ob wir mit Herz-Lungen-Wiederbelebung und Beatmung reagieren müssen. Sehen, hören, spüren – er atmet noch, also legen wir ihn in die stabile Seitenlage und überstrecken den Kopf nach hinten.

„Stooooooop !“, tönt es von hinten. Schlagartig geht es den Unfallopfern wieder besser, alle versammeln sich bei den Leitern von der Johanniter-Unfallhilfe, die die Übung im Rahmen des FIRST AID Highway durchführen. Wie bereits bei den anderen drei fingierten Unfällen folgt die Manöverkritik. Rettungsassistent Stephan Boxnick zeigt sich äußerst zufrieden mit der Performance aller Beteiligten. Es war die letzte Übung eines ereignisreichen und spannenden Tages und es zeigt sich, dass sich bei allen Teilnehmern ein beeindruckender Lerneffekt eingestellt hat. Und der soll sie wappnen für solche Szenarien, die täglich über sie hereinbrechen können.

Learning by Doing

Im Mittelpunkt des „FIRST AID Highway“ Kurses, der sich speziell an Motorradfahrer richtet, steht das Learning by Doing. Das eintägige Training mit der Neusser Kradstaffel der Johanniter-Unfallhilfe vermittelt am Vormittag mit einem Seminar die wichtigsten Grundlagen für Ersthelfer. Dazu gehören etwa das richtige Absichern einer Unfallstelle, Bewusstseinsüberprüfung beim Opfer, korrekte Lagerung, Verbandstechniken und das etwas kniffelige Abnehmen des Helms bei einem Verunfallten. Ausführlich üben die Teilnehmer die Herz-Lungen-Wiederbelebung (HLW) an einer Übungspuppe. „Das ist das Wichtigste überhaupt,“ sagt Rettungsassistent Stefan Boxnick. 30 Hübe auf das untere Drittel des Brustbeins, und das mit einer Frequenz von 100-120 pro Minute. Dann zwei mal beatmen und wieder HLW. Wir geraten mächtig ins Schwitzen, lösen uns gegenseitig ab.

Herz-Lungen-Wiederbelebung und Beatmung
Herz-Lungen-Wiederbelebung und Beatmung

Wohl dem, der einen Defibrillator zur Hand hat. Das Gerät gibt gesprochene Anweisungen, denen der Nutzer folgen muss. „Das ist ziemlich narrensicher“, so Boxnick.

Die Praxis am Unfallort

Am Nachmittag werden die Teilnehmer in drei Gruppen eingeteilt, alle schwingen sich in den Sattel. Im Korso geht es zur ersten Unfallstelle. Andrea und ich gehören zur ersten Gruppe, die direkt zur Tat schreitet. Am Boden liegt eine Frau, die wimmert und sich vor Schmerzen krümmt.

Ich stelle die FJR quer, schalte die Warnblinkanlage ein und hänge noch zusätzlich meine Warnweste über den Heckbürzel. Anhand der Blutspuren erkennen wir unterm linken Hosenbein einen offenen Bruch, täuschend echt mit Theaterrequsiten anmodelliert. Andrea und ein weiteres Gruppenmitglied beruhigen die Frau und reichen mir das Verbandmaterial. In der Hektik entscheide ich mich für einen Druckverband, für den ich das im Verbandszeug enthaltene Dreickstuch missbrauche. Am oberen Ende des Körpers wird es still, die Frau hat das Bewusstsein verloren, atmet aber noch regelmäßig. Also ab in die stabile Seitenlage – ganz schön kniffelig mit einem wackeligen Verband auf einem offenen Schienbeinbruch.

Die anderen beiden Gruppen schauen uns dabei genau auf die Finger und haben die Aufgabe, zu beurteilen, was gut läuft und was wir möglicherweise besser machen könnten. Wir bekommen viel Lob fürs Absichern der Unfallstelle, den Überblick, das Prüfen des Patientenzustands und die Seitenlage. Allerdings war meine Entscheidung für einen Druckverband falsch, denn der kann bei einem offenen Bruch noch mehr Schaden anrichten. Schon wieder etwas gelernt!

So kommt jede Gruppe zum Einsatz, und beim letzten Szenario müssen wir bei einem Großunfall alle ran und unser Teamwork beweisen. Zielsicher und fast schon routiniert meistert dabei jeder seine Aufgabe mit Bravour. Das gibt dem Konzept des FIRST AID Highway recht.

Alles ehrenamtlich

Besonders beeindruckend dabei: der Einsatz der Organisatoren und ihrer ganzen Truppe. Inklusive der zumeist jugendlichen Mimen sind hier nicht weniger als 15 Johanniter im Einsatz. Alle opfern für uns ehrenamtlich ihren Samstag . Und zum Schluss gibt es für alle ein Teilnehmer-Zertifikat und sogar noch ein zünftiges Grillfest auf der Wache, bei dem wir unsere Erlebnisse Revue passieren lassen.

Bundesweit führen zwölf Verbände der Johanniter-Unfallhilfe den FIRST AID Highway durch. Weitere Infos gibt es auf der Landing Page „Erste Hilfe für Motorradfahrer“.