Uns stockt der Atem. Der Mann hat die Stange Dynamit direkt vor unseren Füßen auf den Asphalt geschleudert. Er feixt hämisch, als wir die Schweißperlen von der Stirn wischen.
Rückblende: Durch ein weiteres schweres Gewitter haben wir uns auf rund 4200 Metern bis ins Dörfchen Olague an der chilenisch-bolivianischen Grenze gerettet. Ein weiteres Mal haben wir also in panischer Angst alles abgerufen, was die dünne Luft noch an Motorleistung übrig gelassen hat. Eine Erfahrung, die wir nicht noch einmal machen wollen, denn auf solcher Höhe steckt man mittendrin im Gewitter, die Blitze zucken nicht mehr über uns, sondern schlagen links und rechts von uns in den Boden. Also beschließen wir, künftig sofort das nächste Hostel anzulaufen, sobald in unserer Fahrtrichtung Blitze zu sehen sind.
Auf nach Bolivien
Am nächsten Morgen überqueren wir die Grenze nach Bolivien, das – kaum zu glauben – erst dritte Land unserer Reise. Ein staubiger, aber dennoch gut fahrbarer Weg führt uns in Richtung Uyuni, wo der größte Salzsee der Erde auf uns wartet. Da wir am Morgen beim Grenzübertritt geschlagene zwei Stunden verloren haben, ist es wieder einmal Spätnachmittag, als sich in Richtung Uyuni der Himmel verdunkelt und wiederum heftige Gewitter aufziehen. Genervt beziehen wir in San Cristobal, nur 80 Kilometer vor unserem eigentlichen Ziel, ein ranziges Hostel mit abstoßenden Sanitäreinrichtungen und bananenförmig durchgelegenem Bett.
Einerlei, wir haben ein Dach über dem Kopf, als wenig später Wassermassen in Sturzfluten durchs Dorf schießen und alles mit einer braunen Schlammschicht überziehen. Es ist Regenzeit, da ist so etwas nicht unüblich, denken wir und rätseln, was der Niederschlag wohl von der Erdstraße nach Uyuni übrig gelassen haben mag.
Doch die ist am nächsten Morgen, von einigen tiefen Schlammlöchern abgesehen, in beeindruckend gutem Zustand. Und so fahren wir bald durch die zumeist vom heftigen Regen gefluteten Straßen des Touri-Städtchens Uyuni auf dem Altiplano, jener großen Hochfläche im Südwesten des Landes. Unser Ziel ist indes nicht das schlammige, schmucklose Städtchen, sondern der Salar, auf dem während der Regenzeit einige Zentimeter hoch das Wasser steht. Den Salzsee in der Regenzeit zu befahren wäre der Overkill für sämtliche Oberflächen am Motorrad und zudem wohl der Todesstoß für die Elektrik. So schließen wir uns einer Tour an, bei der wir mit einem Land Cruiser auf den See hinaus fahren.
Ruhet in Frieden
Zunächst geht es jedoch zu einer besonderen Kuriosität am Rande der Stadt. Auf dem Eisenbahnfriedhof rotten ausrangierte Dampfloks und Waggons aus den letzten beiden Jahrhunderten vor sich hin. Ein Anblick, der jedem Eisenbahn-Liebhaber die Tränen in die Augen treibt, aber ein Dorado für Freunde der Schwarzweißfotografie darstellt. Zumindest wenn man es schafft, eines der Motive ohne die egomanen Touris anzutreffen, die ihr Handy in die Höhe recken, um ihr schmieriges Antlitz vor den stolzen Stahlgiganten für Instagram zu inszenieren.
Nach dem Besuch auf einem Ramsch- und Nippes-Markt geht es also endlich hinaus ins endlos scheinende Weiß des rundum von hohen Vulkanen gesäumten Sees. An einer Stelle, an der das Salz abgebaut wird, erzählt uns unser Führer Raimondo über den See und den Salzabbau. Geschlagene 120 Meter reiche das Salz in die Tiefe, und die Ausdehnung beträgt enorme 11.000 Quadratkilometer – etwa viermal so groß wie das Saarland.
Wir hatten noch vor der Reise gehofft, selbst auf Achse den See überqueren, dort campen zu können und uns inmitten des gleißenden Weiß mangels Straßen und Hinweisschildern der navigatorischen Herausforderung zu stellen. Doch als wir auf die Stelle kommen, an der das Wasser zirka fünf Zentimeter hoch steht, weicht unsere Enttäuschung einer tiefen Ehrfurcht vor einem der großartigsten Naturspektakel, die wir je gesehen haben. Das Wasser verwandelt den See in einen riesengroßen Spiegel, der den Horizont komplett verschwinden lässt – der Himmel geht nahtlos in die Wasserfläche über. Es verschlägt uns die Sprache.
Für Naturfotografen ein Leckerbissen der Extraklasse. Obendrein gibt dieses Phänomen Foto- und Videofreunden die Möglichkeit allerlei optische Täuschungen ins Bild zu setzen.
Und Raimondo hat damit wahrlich Erfahrung. Er zeigt uns einige Choreografien, die zu ulkigen Videos werden. So springen wir mit unseren beiden israelischen Mitreisenden tanzend aus einer Pringels-Packung oder stemmen eine riesige Bierdose.
Der Höhepunkt auf dem Salar ist der glutrote Sonnenuntergang, der sich im Wasser spiegelt. Ein überwältigendes Erlebnis, und etwas, das wir noch nie gesehen haben. Der Besuch des Salar de Uyuni gehört für uns zu einer dieser Once-in-a-lifetime-Experiences, die wir nicht vergessen werden.
Ein anderer Planet
Wir fühlen uns in Bolivien, als hätten wir einen anderen Planeten betreten. Das Land ist deutlich ärmer als die beiden Länder, die wir bis dato von Süden bis Norden bereist haben. So viel war uns klar. Wir vermissen indes die Herzlichkeit, die Freundlichkeit und die immer gute Laune, mit denen uns Argentinier und Chilenen begegnet sind. In Bolivien treffen wir meist auf mürrisches Mustern, wortkarg, oder ganz ohne mit uns zu sprechen. Man sieht die Menschen äußerst selten lächeln oder gar lachen und wir wissen oft ihr Verhalten nicht klar zu deuten. Vielfach fehlen die Begrüßungsfloskeln oder Danke und Bitte gänzlich. Wir erleben hier die ganze Bandbreite – von der unverhohlenen Ablehnung bis hin zur herzlichen Hilfsbereitschaft. Der Teint der Menschen ist wesentlich dunkler als in den beiden südlichen Ländern, und so stechen wir allein optisch deutlicher heraus.
Ein Mann mit langen Haaren und eine Frau, die ein großes Motorrad fährt – beides gibt es hier nicht, und entsprechend argwöhnisch werden wir meist beäugt. Der Umgang ist sicher nicht schlechter als bisher, aber doch ein wenig komplizierter. Besonders schwierig ist das Fotografieren von Menschen. Viele glauben hier immer noch, dass die Seele Schaden nimmt, wird man auf einem Foto abgelichtet. Gerade bei den prächtig gekleideten Marktfrauen ist dieser Aberglaube weit verbreitet. Für fünf Bolivianos pro Foto ist das Seelenheil allerdings schnell wieder hergestellt. Ein Deal, auf den wir indes nie eingegangen sind.
In der einst größten Stadt der Welt
Wir wenden uns gen Osten und überqueren immer wieder Bergrücken, fahren durch Canyons, genießen die Kurvenhatz der vielen Passstraßen und bestaunen bis zu zehn Meter hohe Säulenkakteen, die in weißen, gelben oder roten Blüten erstrahlen. Die Größten müssen einige Jahrhunderte auf dem Buckel haben und hätten viel zu erzählen, könnten sie sprechen. Bald erreichen wir Potosi, eine alte Bergbaustadt auf 4000 Metern Höhe, deren Stadtränder von großer Armut zeugen. Das Zentrum indes strahlt noch einiges der Kolonial-Pracht aus dem 17. Jahrhundert aus, als die Stadt zu den größten und reichsten der Welt gehörte. Silber und Zinn brachten damals Wohlstand, und auch heute sind die Minen noch die größten Arbeitgeber der Region.
Wir wollen mehr erfahren und melden uns zu einer Tour in eines der Bergwerke an. Zunächst besuchen wir den Mercado minero, den Bergarbeitermarkt. Hier ist alles zu haben, was der Kumpel benötigt. Koka wird hier ebenso verkauft wie Boliviano-Whisky mit 97 Prozent und Dynamit samt Zündschnüren – übrigens der einzige Markt weltweit, auf dem jedermann legal Sprengstoff kaufen kann. Eine Stange kostet samt Zündschnur gut drei Euro.
Unser Führer wirft uns die Stange Dynamit vor die Füße und lacht, als uns die Gesichtszüge entgleisen. „Keine Sorge, Dynamit zündet nicht bei Erschütterung, dafür braucht man die Zündschnur“, so der Ex-Bergmann. „Hoffentlich weiß das Dynamit das auch“, denken wir uns und folgen ihm in bergmännischer Montur samt Helm und Grubenlicht in die Mine.
Wir sehen mit eigenen Augen die erbärmlichen Bedingungen, unter denen die Kumpel arbeiten. In einer dichten Staubwolke stehen zwei Bergleute, einzig mit einer billigen Atemschutzmaske ausgestattet, am Bohrhammer und schuften.
„Wer das 50ste Lebensjahr erreicht, hat Glück, die meisten werden von der Staublunge dahingerafft oder sterben bei Unglücken mit Dynamit oder auf den klapperigen Holzleitern, die bis zu 50 Meter in die Tiefe führen.“, erzählt unser Führer. Noch immer ereignen sich rund 30 tödliche Unfälle pro Jahr in den Minen in und um Potosi. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in uns breit, als wir kilometerweit in den Stollen vordringen, immer wieder vorbei an ungesicherten Löchern. In einem Seitenstollen sehen wir eine Teufelsfigur mit einem Riesenpenis, eingedeckt mit Kokablättern, Whisky und Zigaretten.
„Tio“ ist der Gegenspieler zu Mutter Erde „Pachamama“. Der Teufel ist in der Mythologie der Bergleute allerdings keine Figur – wie etwa im Christentum – die dem Menschen unversöhnlich gegenübersteht. Die Bergleute huldigen Tio jeden Freitag mit ihren Gaben, dass er ihnen gute Erträge bringen und sie vor Unfällen bewahren möge.
In die Hauptstadt
Wir indes kauen unser Koka lieber selbst und fahren weiter Richtung Osten in die Stadt der weißen Kirchen Sucre, gleichzeitig seit der Unabhängigkeit des Landes 1825 die Hauptstadt Boliviens. Das wunderschöne koloniale Ensemble der größtenteils in Weiß erstrahlenden Altstadt aus dem 16. Jahrhundert wurde 1991 ins UNESCO Weltkulturerbe aufgenommen. Im Herzen der Altstadt befindet sich der wuselige Mercado Central, auf dem alles feilgeboten wird, was der Mensch möglicherweise braucht – oder auch nicht. Uns zieht all das an, was sich verspeisen lässt, gerade die Frucht- und Gemüsestände haben es uns angetan.
Denn hier entdecken wir jede Menge Grünzeug, das wir noch nie im Leben gesehen haben, aber unbedingt probieren wollen. So zum Beispiel Ajajarus, Curubas oder Cheremoyas. Und die komplette Ladung an Obst gibt es bei den Fruchtshakes. Die Ladies stehen mit ihren Ständen in einer Linie aufgereiht und brüllen um die Wette, die meisten Kunden anzuziehen. Im ersten Stock finden sich die Garküchen, auch hier wird um die Gunst der Passanten gebrüllt. Hier lässt sich für kleines Geld lecker einheimisch speisen.
Nicht verpassen darf der Reisende in Sucre die vielen ebenfalls im Kolonialstil erbauten Kirchen, darunter gar eine Kathedrale. Bei den meisten darf der Besucher das Dach besteigen, von wo sich ein toller Ausblick über die Altstadt bietet.
Auch wenn Sucre wohl eine der schönsten Städte Südamerikas ist, zieht es uns wieder hinaus in die Bergwelt und wir wenden uns Richtung Nordwesten. Wiederum geht es durch schroffe Berglandschaften, die allenthalben von ärmlichen Hütten gesäumt werden. Hier fristen Kleinbauern in ärmliches Dasein und trotzen den kargen Böden ein wenig Essbares ab. Bald führt uns eine lange Passstraße in die Tiefe bis zu einem wilden Fluss, der sich hier offenbar ins Tal gegraben hat. Der Blick auf den Höhenmesser zeigt, dass wir die Kleinigkeit von 2500 Metern Höhe verloren haben. Das spüren wir an den Temperaturen, die so von 15 auf weit über 30 Grad geklettert sind.
Ein pompöser Brückenbau zieht unsere Blicke auf sich. Inmitten vom Nichts hat die ehemalige Regierung Morales eine prächtige Hängebrücke mit imposanten Türmen an beiden Enden bauen lassen – wohlgemerkt nur für die wenigen Fußgänger, die sich in die Gegend verirren. Der recht neue Bau ist indes offensichtlich so fachmännisch ausgeführt worden, dass sich an einem der Brückentürme bereits die ersten drei Meter Brücke in die Tiefe verabschiedet haben. Schade, denn ein Spaziergang auf dem Viadukt hätte sicher für tolle Ausblicke gesorgt.
Auf einer gut ausgebauten Straße mit wenig Verkehr, aber umso mehr Kurven, erreichen wir Cochabamba, die mit rund 700.000 Einwohnern viertgrößte Stadt des Landes. Und neben La Paz wohl der fieseste Verkehrs-Moloch obendrein. Über eineinhalb Stunden benötigen wir zur Durchquerung, denn unser angepeilter Campingplatz liegt auf der anderen Seite in einem Naturpark.
Dort angekommen genießen wir, klatschnass geschwitzt, erst einmal bei einem schönen kalten Bier die Ruhe und Abgeschiedenheit. Doch mit der Ruhe ist es jäh vorbei, als wir feststellen, dass die Lichtmaschine der Dakar statt der normalen 14,4 Volt nur noch deren 11,2 liefert. München, wir haben ein Problem. Schon wieder !
Kilometer: 15.012
Unsere Route findet Ihr wie immer hier.