Gefangen im sintflutartigen Regen: Auf knapp 4000 Metern verbringen wir die Nacht in einer alten Schule – und machen faszinierende Bekanntschaften…
In unserem Naturpark in Cochabamba angekommen, stellen wir fest, dass die Ladespannung der Dakar nur noch weniger als 12 Volt beträgt. Normal sind 14 bis 14,8. Hier kündigt sich also einmal mehr ein Problem an, das uns auf unserem weiteren Weg durch die abgelegenen Berglandschaften gen Norden zum Verhängnis werden könnte. Also wieder einmal ab in die Werkstatt.
Mit der Dampflanze in die Elektrik
Glücklicherweise befinden wir uns am Rand einer Großstadt mit einer BMW-Motorrad-Niederlassung. Neugierig beäugt der Werkstattleiter die Maschine. Viel zu erkennen ist nicht, denn die Münchenerin ist von vorn bis hinten mit einer soliden Schlammkruste überzogen. Seinen fragenden Blicken entgegne ich: „Das ist ne Enduro, das muss so“ – Stichwort artgerechte Haltung und so… Wortlos schiebt der Mann die F650 in die Waschbox und beraubt sie ihres natürlichen Schutzmantels. Vorher nimmt er allerdings noch die Sitzbank ab, um mit der Sprühlanze direkt in die offenliegende Elektrik zu halten. Die Mühe, die Gummikappe über die offene USB-Dose zu schieben spart er sich indes. Mein Blutdruck steigt und ich male mir bereits die fiesesten Elektrikwürmer aus. Zumindest bringt die Dusche das Problem zutage: Durch die Schüttelei des Einzylinders haben sich die Schrauben des Motordeckels gelockert. Öl ist auf den Lichtmaschinenstecker gelaufen und hat mit Staub und Schlamm eine betonartige Kruste gebildet. Alles sauber gemacht und die Schrauben angezogen – schon liefert der Generator wieder brav seine 14,4 Volt.
Da wir schon einmal hier sind, sehen wir uns auch das Städtchen an. Außer einem riesenhaften Markt, der sich durch die komplette Innenstadt zieht, gibt es nicht viel zu sehen. Die größte Attraktion ist die weithin sichtbare Jesus-Statue auf einem recht zentral in der Stadt gelegenen Hügel – quasi das Rio de Janeiro für Arme. Mit einem Unterschied: beim hiesigen Exemplar handelt es sich mit 40 Metern Höhe und 2200 Tonnen Gewicht um die zweitgrößte Christus-Statue der Welt. Von dem Hügel aus bieten sich faszinierende Ausblicke über die Stadt hinweg und auf die umliegenden Berge.
Das Drama mit dem Sprit
Unser Ziel ist das Tiefland, der Regenwald im Zentrum und im Norden des Landes. Also Benzin bunkern und los. Das mit dem Sprit ist in Bolivien so eine Sache. Ausländer zahlen hier den zweieinhalbfachen Preis, also umgerechnet rund 1,20 Euro (8,76 Bolivianos) pro Liter gegenüber 50 Cent (3,76 Bolivianos) für die Einheimischen. Es sei denn man kauft den Sprit im Kanister und füllt den Saft abseits der Zapfsäulen mit einem Trichter in die Tanks. Bitte, bitte nicht nach dem Sinn fragen! Das Ergebnis ist neben der Zeitverschwendung meist eine heillose Sauerei, doch spart das enorm Geld.
Eigentlich gestaltet sich der Affentanz jedesmal anders. Mal bekommen wir ungefragt den Einheimischenpreis, mal wird er uns ganz verweigert, mal müssen wir pro zehn Liter in Kanistern eine Ausweiskopie abgeben. Und häufig bekommen wir unser Benzin zum Preis von 5 Bolivianos und der Tankwart steckt sich die Differenz Cash-in-die-Täsch. Uns soll es recht sein.
Über Bergpisten ins Tiefland
Wir starten also auf Ruta 25 durch die Berge gen Norden. Steil windet sich die Schotterpiste hinauf auf 4400 Meter über Meeresniveau. Schon an der Leistung der Einzylinder merken wir, dass wir uns fast 2000 Meter in die Höhe geschraubt haben. Hinter dem Sattel wird der Weg schmaler, die Piste krallt sich förmlich an die steilen Hänge der Viertausender und bietet allenthalben tolle Ausblicke in die Täler und die gegenüber liegenden Bergketten.
Der Horizont wird dunkler und schon bald setzt Regen ein, der einige Stellen des Weges recht glitschig werden lässt. Immer tiefer arbeiten wir uns in die Andenkette vor. In einem Dorf tanken wir noch Trinkwasser, denn die Piste bis Rurrenabaque wird drei Tage in Anspruch nehmen. Ungläubig starren uns die Einheimischen an, zwei Jungen beäugen die für sie gigantisch großen Motorräder, antworten aber nicht auf meine Ansprache. „Hier spricht kaum jemand Spanisch“, erläutert uns ein freundlicher Mann, der sich zu uns gesellt hat, „die meisten verstehen nur Quechua.“ Und viele dürften noch nie jemand mit weißer Hautfarbe gesehen haben. Touristen kommen nicht in diesen abgelegenen Landstrich. Gott sei Dank.
Endstation Erdrutsch
Immer wieder führt uns die Piste hinab zu reißenden Wildflüssen, um auf der anderen Seite wieder steil anzusteigen. Mittlerweile hat die Sonne wieder die Oberhand gegen die Wolken gewonnen. Selten hat Motorradfahren so viel Spaß gemacht. Wir fahren am Rand einer Schlucht entlang, allerdings sehen wir auf der gegenüberliegenden Seite keinen Weg mehr. Wenig später stehen wir vor einem Erdrutsch, der die Ruta 25 komplett verschüttet und Teile von ihr in die Tiefe gerissen hat. Durchkommen unmöglich – nach 100 Kilometern offroad.
Eine Nacht in der Schule
Guter Rat ist nun teuer. Doch der kommt auf einem Mopped angefahren. Der einheimische Tierarzt, der auf seiner China-Schleuder den Hang herauf geschnauft kommt, deutet an einem Abzweig den Berg hinauf. „Den könnt ihr nehmen, ist auch gut zu fahren“, sagt der Mann. So fahren wir also bergan. Doch schon nach Kurzem präsentiert sich der Weg von einem Traktor gnadenlos zerfurcht. Zudem wird er immer weicher und schlammiger. Wir fahren uns ein ums andere mal fest und ziehen die Karren im Schweiße unseres Angesichts immer wieder aus dem Dreck. Der Viecherdoktor hat irgendwie vergessen, dass seine Kiste keine 100 Kilo wiegt, unsere mit Gepäck aber vermutlich jenseits der Vierteltonne liegen. Wir kämpfen uns immer weiter den Berg hinauf, bis wir irgendwann zu der Einsicht kommen, dass wir vermutlich nicht durchkommen werden. Was mit Stollenreifen kein Problem wäre, wird mit dem Enduroprofil der Heidenau Scouts zur Plackerei oder gänzlich unmöglich. So kehren wir schließlich um. Da sich gerade wieder Regen eingestellt hat, beschließen wir, die alte verlassene Schule wenige hundert Meter unterhalb als Nachtquartier zu beziehen. Dort gibt es sogar einen funktionierenden Wasserhahn, an dem wir uns waschen.
Die Begegnung der dritten Art
Wir wissen nicht, warum der große Komplex samt Sportplatz verlassen und dem Verfall preisgegeben ist. Weiter unten war uns bereits eine eingefallene kleine Kirche aufgefallen. Tief hängen die Wolken in den Bergen und geben tolle Fotomotive ab. Als Andrea schräg gegenüber nach Fotos jagt, stolpert sie zu einem versteckt hinter den Büschen gelegenen kleinen Haus, wo eine Familie mit zwei Kindern ihr kärgliches Dasein fristet. Die Kinder sind Feuer und Flamme über diese Begegnung der dritten Art, die Mutter sitzt ein wenig eingeschüchtert an ihrem Webstuhl, lässt sich aber immerhin fotografieren. In der Mitte steht eine große Schüssel mit gekochtem Mais. Die Familie spricht Spanisch, und so kann Andrea ihnen klar machen, dass wir uns wegen der fortgeschrittenen Stunde und des Wetters in der Schule einquartiert haben.
Eine Stunde später kommen der kleine Junge und seine große Schwester zu uns und bringen uns einen großen Teller von ihrem Mais. Wir freuen uns über die tolle Geste, zeigen den beiden unsere Motorräder und geben ihnen unsere Visitenkarte mit unserem Bild. Sie teilen das wenige, das sie haben, noch mit Besuchern aus einer anderen Welt, die sie nicht einmal kennen! Den leckeren Mais kippen wir in unsere Tomatensoße und geben Nudeln dazu. Ein leckeres Mahl – während sich draußen sintflutartiger Dauerregen eingestellt hat.
Am nächsten Morgen reißt uns um halb sieben eine Stimme aus dem Schlaf. Ein Einheimischer steht in der nicht vorhandenen Tür des Klassenzimmers und fragt, ob wir gut geschlafen haben. Was für eine dämliche Frage um 6:30 Uhr! Den hageren Mann mit Gummistiefeln, Hut und Regenponcho, hat offenbar die Neugier hierher getrieben. Mit einer großen Tüte Kokablätter in der Hand und dicken Backen stellt er ein paar weitere dusselige Fragen, um schließlich von dannen zu ziehen.
Rückmarsch
Es hat die ganze Nacht durchgeregnet, der Weg vor der Schule präsentiert sich als Schlammwüste. Wir haben etwas Sorgen um den Zustand des restlichen Wegs und machen uns schließlich auf die Reise. Es regnet unentwegt, und immer wieder furten wir stark angeschwollene Bachläufe und tiefe Wasserlöcher.
Doch mit den Kilometern wird die Piste solider, offenbar hat es nicht überall so heftig geregnet wie bei unserer Schule. Als wir uns zum Sattel über Cochabamba hochschrauben, tauchen wir in die Wolken ein, die Sichtweite beträgt stellenweise keine zehn Meter. Wenig später sind wir zurück in unserem Naturpark. Zwei Tage verloren? Nein! Faszinierende Landschaften entdeckt und tolle Erfahrungen gemacht. Und genau dafür haben wir diese Reise angetreten.
Unseren Besuch von Rurrenabaque und dem Madidi Nationalpark verschieben wir erst einmal und fahren nach Osten gen Villa Tunari am Rand des Carrasco Nationalparks. Die gerade einmal 200 Kilometer werden zu Tortur, immer wieder gilt es, den gefährlichen Schlagloch-Kratern in der Straße auszuweichen. Die meisten der unzähligen Baustellen unterwegs bestehen aus Tiefschotter und die aberhunderte LKW legen Staubfahnen, die uns gänzlich die Sicht rauben.
Verdreckt ins Paradies
Paniert wie Wiener Schnitzel kommen wir an unserem Ziel, einem kleinen privaten Naturpark mit allerlei tropischen Pflanzen und Tieren an. Begrüßt werden wir neben abertausenden Moskitos von den vier Ara-Papageien. Zelt aufbauen und erst einmal quer durch den Urwald zum Schwimmen in den Fluss.
Eine Oase der Ruhe, zumindest dann, wenn sich die Aras gerade nicht über die Vorräte in der rundum offenen Küche hermachen. 36 Grad und 100 Prozent Luftfeuchte lassen uns träge werden. Wirtin Lili hat ihr eintöniges Leben in Cochabamba hingeschmissen und ist mit ihrem Mann in dieses Idyll gezogen. „Die Moskitos hier sind kein Problem, aber im Dorf. Da grasiert das Dengue-Fieber“. Wir schlucken, denn das Dorf ist keinen Kilometer entfernt, und wir müssen dort einkaufen.
Die leckersten Früchte wachsen hier alle am Baum – Bananen, Ajajarus, Cheremoyas und vieles mehr. Wir entdecken mehrere Carambola-Bäume, die sich vor Obst schon nach unten biegen. An den bei uns als Sternfrüchte bekannten, leckeren Carambolas schlagen wir uns direkt vom Baum die Bäuche voll.
Es duftet lecker nach den Koka-Blättern, die der Schwiegervater zum Trocknen ausgebreitet hat. Immer wieder nehmen wir einen der Aras auf die Hand. Die Großvögel sind verrückt nach Früchten.
Nach drei Tagen beschließen wir, zurück in die Berge zu fahren, denn mittlerweile setzt hier der strömende Regen gegen Mittag ein und hält bis zum nächsten Morgen an. Nicht ein Stück unseres Equipments ist angesichts der Luftfeuchte mehr trocken. Ein drittes Mal laufen wir bei Cochabamba in unserem Naturpark ein, denn in dem naturbelassenen Wald ist es ruhig und das Zelten kostet gerade einmal umgerechnet 0,80 Euro. Wir breiten unser komplettes Equipment im Gras zum Trocknen aus. Erstaunlich, was alles auf ein Motorrad passt!
Auf nach La Paz
Wiederum zwingt uns auf dem Weg nach La Paz ein heftiges Gewitter zu einem Zwischenstopp nur gut zwei Stunden von der Großstadt entfernt. So dauert es also bis zum nächsten Morgen, als wir in der Metropole die steilen Straßen in den Talkessel hinab fahren, meist im ersten Gang mit Motorbremse. Auf der anderen Seite geht es ebenso steil und ebenfalls im ersten Gang wieder hinauf. Alles Gewicht nach vorn und auf Drehzahl halten – so keuchen wir hinauf zum legendären Camping Las Lomas. Platzwirt Marcos ist der Gott aller Overlander, denn er betreibt dort eine Kfz-Werkstatt. Und es gibt definitiv kein Problem, das der sympathische Mittvierziger nicht lösen könnte.
Wir vertrauen ihm die Ventilspielkontrolle und den Wechsel der Bremsflüssigkeit an beiden Moppeds an. Außerdem installiert er ein Pluskabel, mit dem wir die Maschinen notfalls von außen fremdstarten können. Der Sattler seines Vertrauens repariert für schmales Geld unsere Tankrucksäcke, seine Dreher- und Schweißerwerkstatt punktet die abgebrochenen Kettenschutzaufnahme wieder an die Schwinge der Dakar.
Es regnet jeden Tag ab dem Nachmittag bis zum nächsten Morgen wie aus Eimern. Der Dauer-Seich schlägt uns langsam wahrlich aufs Gemüt, aber wir vertreiben uns die Zeit beispielsweise mit Seilbahnfahren. Aus den modernen Gondeln österreichischer Provenienz ergibt sich ein traumhafter Blick über den Talkessel hinweg. Rot schimmert die uferlos scheinende Stadt von oben. Denn kaum eines der Ziegelhäuser ist verputzt.
Wir wollen außerdem mehr erfahren über die Heilpflanze, die uns nun schon so oft nicht nur über den Schwindel beim Fahren in großen Höhen, sondern auch über alle möglichen weiteren körperlichen Malaisen hinweg geholfen hat: Das Koka-Museum in der Altstadt führt anschaulich in die sozialen und medizinischen Aspekte der bei den Indigenen heiligen Pflanze ein – und auch in die fiese Droge, die mit einer Reihe von Chemikalien daraus hergestellt werden kann.
Auf dem Hexenmarkt gibt es alle möglichen Abstrusitäten, hier tummeln sich Wahrsager, Wunderheiler und allerlei Scharlatane. Hier gibt es aber auch sämtlich Zutaten zu kaufen, die es für das freitägliche Brandopfer an Pachamama (Mutter Erde) bedarf. Dazu gehören neben jeder Menge Kräuter, Koka und Glitter auch getrocknete Lama-Föten. So bitten die Indigenen um die Gunst Pachamamas, zum Beispiel um Gesundheit, Geld oder Liebe.
Einen effektiveren Dienst an Mutter Erde indes hat sich die kolumbianische Familie auf die Fahne geschrieben, die mit uns auf Las Lomas gastiert. Gustavo, Ariadna und die beiden Kinder reisen mit einem zum Wohnwagen umgebauten Autoanhänger – mit dem Ziel, Bäume zu pflanzen. Beim gemeinsamen Mittagessen erzählt der gelernte Pharmazeut, dass sie mit der Hilfe von Kommunen oder Firmen bereits mehrere tausend Bäume aufforsten konnten.
Wenn schon Regen, dann wenigstens warm, denken wir uns und machen uns aus der Metropole auf den Weg durch die Yungas in den Amazonas-Regenwald im Nordosten. Und der Trip wird wahrlich ein Abenteuer, bei dem wir den Dschungel durchwandern, auf illegale Holzfäller stoßen und die Todesstraße befahren. Mehr demnächst…
Kilometer: 16.131
Unsere Route findet Ihr wie immer hier.