Auf dem Weg zum Nordpolarmeer kreuzen wir zwei Mal die Grenze hinüber nach Alaska, treffen faszinierende Menschen und Landschaften. Doch das größte Highlight kommt wie immer zum Schluss.
Der Regen scheint uns auf Schritt und Tritt zu folgen. Im strömenden Siff schlagen wir uns von der Traumlocation Jasper National Park mit seinen schroffen, schneebedeckten Bergen, dichten Wäldern und tiefblauen Seen zurück nach Clearwater im westlich benachbarten British Columbia. Eigentlich wollten wir uns weiter gen Norden halten, doch schon auf dem Weg nach Banff hat an der GS der linke Gabelsimmerring das Zeitliche gesegnet und pumpt nun sein Öl ungeniert in die Bremse. So steuern wir einmal mehr die Werkstatt von Rosella und Fred an. Der Regen wird immer stärker, es schüttet Tag und Nacht. Nach einer Woche lässt das lästige Nass nach und wir machen uns mit neuen Dichtringen auf den Weg gen Norden.
Der Wahnsinn bricht herein
Das kleine beschauliche Dörfchen Barkerville steht stellvertretend für einen Wahnsinn, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts über den Westen Kanadas und über Alaska hereinbrach. In der Cariboo-Region wurde Gold gefunden. 1862 stieß William Barker auf das Edelmetall nahe einer indigenen Siedlung, die später den Namen des aus Kalifornien stammenden Glücksritters tragen sollte.
Ein gigantischer Boom begann nicht nur hier, sondern in vielen Dutzenden Regionen, inklusive des berühmten Klondike nahe Dawson City im Yukon. Abertausende von Abenteurern machten sich auf in die harsche Wildnis. Gar bis aus dem Reich der Mitte kamen die auf Reichtum Hoffenden. Innerhalb kürzester Zeit bestand die Hälfte der Bewohnerschaft Barkervilles aus Chinesen, die nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre, Kultur, Sprache und Kulinarik mitbrachten. Heute ist Barkerville eine faszinierende Geisterstadt, die zum Freiluftmuseum umfunktioniert wurde.
Bis zum Nordpolarmeer sind es noch etliche tausend Kilometer, doch zuvor haben uns BMW-Fahrer Scott und seine Frau Pippa nach Prince George eingeladen, bevor wir uns schließlich weiter nach Norden wenden. Auf dem Highway treffen wir auf einen stattlichen Schwarzbären, der auf der durchgezogenen Mittellinie sein dickes Geschäft verrichtet, bevor er unbeeindruckt von uns ins Dickicht trottet.
Weiter gen Norden
Anderntags laden wir die Hinterreifen auf, die Scott für uns entgegengenommen hatte, und fahren unseres Weges entlang des Yellowhead Highways und des Cassiar Highways, die uns immer weiter in den Norden der Provinz British Columbias führt. Immer einsamer wird der Landstrich, immer höher die Berge, immer größer die Seen, die wir passieren. Tief und satt grün präsentieren sich die riesigen Wälder, immer wieder dringt der Duft von Kiefernnadeln unter unsere Helme.
Bei Meziadin Junction setzen wir den Blinker, passieren den schon fast gänzlich zusammengeschmolzenen Bear Glacier und gleiten hinunter nach Stewart. Das beschauliche 400-Seelen-Dörfchen stammt ebenfalls aus der Goldrush-Zeit. Es liegt am Ende des lang gezogenen Portland-Kanals vom Pazifik gen Inland und dient heute in der Hauptsache als Holzverladehafen. Als wir den Campingplatz beziehen setzt wieder einmal strömender Regen ein. Nicht ungewöhnlich in den Bergen rund um die Pazifikküste, aber allemal nervig.
Zum ersten Mal in Alaska
Anderntags fahren wir hinüber über die Grenze in jenen fast unbewohnten, äußerst südlichen Zipfel Alaskas rund um die Geisterstadt Hyder. Die USA haben hier nicht einmal einen Grenzposten. Das idyllisch im Grünen zwischen hohen Bergen gelegene Dörfchen besteht zumeist aus leerstehenden oder gar verfallenen Holzhäuschen. Es ist per Straße ausschließlich durchs kanadische Stewart oder per Boot oder Flugzeug erreichbar. Nachdem die meisten der dortigen Minen stillgelegt worden waren, packten die meisten Bewohner ihre Koffer.
Außerhalb der „Friendliest Ghost Town in Alaska“ besuchen wir die Fish Creek Wildlife Observation Site, wo der Besucher Bären beim Fischen nach den stromaufwärts ziehenden Lachsen beobachten kann. Ende Juni ist es allerdings noch zu früh, keine Lachse, keine Bären. Wir nehmen die Schotterpiste in die Berge unter die Räder und schrauben uns immer höher gen Wolkendecke. Nach rund einer halben Stunde stoßen wir auf den gigantisch großen Salmon Gletscher tief unten im Tal.
Es beginnt wieder zu regnen und so wenden wir uns wieder talwärts. Anderntags herrscht strahlender Sonnenschein, und so besuchen wir den Gletscher abermals. Das Ensemble aus den Eismassen und den noch verschneiten Bergen strahlt in leuchtenden Farben. Allerdings setzt eine Decke aus pappigem, im Schmelzen begriffenem Schnee unserem Gipfelsturm ein jähes Ende.
Wir quälen uns durch den eiskalten Regen
Es zieht uns weiter gen Norden, denn in Skagway erwartet uns Joe, ebenfalls ein Motorradnarr, der einige Sendungen, unter anderem aus Deutschland, für uns entgegen genommen hat. Als wir bei Meziadin Junction wieder auf den Cassiar Highway einbiegen, fällt die Temperatur auf rund 5 Grad und es beginnt zu schütten, als gäbe es kein Morgen mehr. Frierend wie die Schneider quälen wir uns die 400 Kilometer bis Dease Lake, wo wir uns eine völlig überteuerte, aber beheizte Hütte auf einem Campingplatz gönnen. Hauptsache trocken und warm.
Im Schildergarten
Anderntags hängen die Wolken immer noch tief, doch zumindest hat Petrus die Schleusen geschlossen. Im Gegensatz zum Vortag sorgt der wellige und für kanadische Verhältnisse äußerst kurvige Cassiar Highway heute für eine Menge Fahrspaß. So überqueren wir die Grenze zum Yukon Territory und erreichen Watson Lake. Eigentlich ein öder Flecken mit vier Tankstellen und einem Supermarkt, doch hat eine Touri-Attraktion das völlig überteuerte Dörfchen weltberühmt gemacht. Der „Sign Post Forest“, ein Schilderwald mit über 80.000 Schildern aus aller Welt.
1942 fügte US Army Engineer Carl Lindley aus Heimatverbundenheit den hiesigen Verkehrsschildern eines mit der Aufschrift „Danville, Illinois, 2835 miles“ hinzu. Immer größer wurde die Zahl mit den Jahren, und noch heute wächst der beträchtliche Schilderwald immer weiter.
Rokon statt Ferrari
Wir wenden uns gen Westen. In Skagway, wie Hyder im Südbogen von Alaska gelegen, erwartet uns Joe. Sein dicker Oberlippenbart erinnert an die Serie Magnum. Doch Joe fährt nicht Ferrari, sondern Motorrad. Neben einer Kawasaki KLR 650 und einer Honda XR150 besitzt er auch noch ein russisches Ural-Gespann und ein höchst ungewöhnliches Allradmotorrad der Marke Rokon.
Wir fahren in das 1000-Seelen-Dörfchen ein und werden von vier im Hafen liegenden Kreuzfahrtschiffen begrüßt. Tausende Touristen schieben sich durch die Souvenir-Läden. Die Schiffe bringen zwar eine Menge Geld nach Skagway, doch von Authentizität ist tagsüber nicht mehr viel zu spüren. Das ändert sich abends, wenn die Pötte abgelegt und Skagway wieder seinen Einwohnern hinterlassen haben.
Der Schock
Joe wohnt 10 Meilen außerhalb im Grünen. Bei einem kurzen Stopp auf dem Weg dorthin durchzuckt es Tom beim Blick auf seinen Vorderreifen. Und da wird selbst der unerschrockenste Biker bleich: Der Gummi ist so abgefahren, dass an mehreren Stellen der Schlauch hervorlugt. Die langen Highway-Etappen haben dem qualitativ eher mäßigen taiwanischen Kenda-Pneu mehr zugesetzt, als vorherzusehen war. Nun ja, bei Joe warten bereits neue Vorderreifen auf die BMWs. Im Schleichtempo absolvieren wir die letzte Fahrt des Kenda über den scharfkantigen Schotter.
Dank Joe lernen wir viele der Einheimischen kennen. Es ist ein herzliches und sehr humorvolles Völkchen, das hier lebt, auch wenn nur ein Bruchteil das ganze Jahr hier verbringt. Wir erkunden die beeindruckend zwischen hohen Bergen am Ende des Lynn-Kanals liegende Gegend. Und saugen alles auf, was mit dem Kollektiv-Wahnsinn Gold Rush zu tun hat. In Skagway und im deutlich größeren, heute aber komplett verschwundenen Dyea kamen ab 1898 die Glücksritter zu Abertausenden per Schiff an und machten sich auf den Weg Richtung Klondike – im Winter, mit 150 oder mehr Kilogramm an Ausrüstung und Proviant über den White Pass oder den mörderischen Chilkoot-Trail hinauf zu den Seen oberhalb. Dort bauten sie Flöße und schipperten über die Flüsse mit gefährlichen Stromschnellen hinauf nach Dawson City im heutigen Yukon Territory. Ein Himmelfahrtskommando im Run auf die Claims, das viele nicht überlebten. Die allerwenigsten brachten es zu Reichtum. Die meisten von ihnen kehrten gebrochen und pleite in ihre Heimat zurück.
Von Tunten und Tragödien
Für die Touris gibt man täglich eine Theateraufführung der „Days of 98“, die den Goldrausch und den damit einhergehenden Trubel und Irrsinn in Skagway aufgreift. Wir hingegen sehen eine ausschließlich für die Einheimischen einstudierte Persiflage darauf – namens „Gays of 98“, eine urkomische, aber künstlerisch top dargebrachte Tunten- und Travestie-Show, die nur einmal im Jahr gezeigt wird. Wir lachen Tränen – so wie alle Einheimischen um uns herum. Und natürlich folgen stehende Ovationen für die Schauspieler.
Wir ziehen Grobstollenreifen auf die BMWs, schließlich wollen wir hinüber in den Yukon und auf dem anspruchsvollen Dempster Highway bis ganz hinauf nach Tuktoyaktuk am Polarmeer. Joe will den Kenda als Mahnmal an seine Werkstattwand hängen.
Der 4. Juli steht vor der Tür und so beschließen wir, den US-Nationalfeiertag noch in Skagway zu verbringen. Schließlich stehen Eierweitwurf, Pizzawerfen und viele weitere abgefahrene Aktivitäten auf dem Programm. Joe und seine Freundin Christie fahren bei der großen Parade mit ihrem Gespann mit. Die russischen Hoheitsabzeichen hat er für den Zweck vorsichtshalber überklebt.
Auf den berüchtigten Dempster
Unsere Zeit in dem sympathischen Ort geht zu Ende, denn wir wollen mit einem Versorgungsstopp in Whitehorse weiter ans Nordmeer, dem nördlichsten Punkt unserer Reise. Immer wieder passieren wir große Regionen, in denen Waldbrände so gut wie alles Leben vernichtet haben. Katastrophen, von denen sich die Natur über Jahrzehnte hinaus nicht erholt. Gefühlt ist halb Kanada verbrannt.
Und noch dazu ereilt uns die Hiobsbotschaft, dass im Jasper Nationalpark fürchterliche Brände wüten – dort, wo uns die gewaltige Natur so in den Bann gezogen hat wie kaum irgendwo sonst. Dort, wo wir noch kurz zuvor unsere ersten Bären, Elche und Wapitis gesehen haben. Dort, wo wir kaum mehr weg wollten. Uns ist zum Heulen zumute.
Wir kommen am Abzweig zum berüchtigten Dempster Highway an. Jener – wie wir hörten – so gefährlichen 900 Kilometer langen Schotterpiste hinauf nach Tuktoyaktuk, zum obersten Zipfel der Nordwest-Territorien. Unberechenbar soll sie sein, und je nach Wetterlage immer anders im Zustand. Und die kann sich binnen Minuten ändern. Jedes Jahr sterben hier Motorradfahrer oder verletzen sich schwer.
Trotz der Kunde, dass in Fort McPherson die dortige Fähre ausgefallen ist, füllen wir alle Gefäße mit Sprit, reduzieren den Reifendruck und nehmen die Piste unter die Räder. Nach kurzer Strecke setzt Regen ein, der den umliegenden Ogilvie-Bergzügen etwas mystisches verleiht.
Regen, Hagel und Schlamm
Die Piste bleibt dennoch stabil befahrbar, ohne zu stauben. Wir passieren zwei verunfallte BMW im Straßengraben, bevor wir am Truckstopp Eagle Plains unser Zelt aufschlagen. Am nächsten Morgen schüttet es wie aus Eimern, klart jedoch auf, als wir wieder auf den Dempster einbiegen. Der allerdings präsentiert sich heute von seiner fiesen Seite: Durchgeweicht und mit jeder Menge schlammiger Passagen. Die Grobstoller aufzuziehen hat sich als goldene Entscheidung erwiesen, mit 80/20-Reifen wäre an ein Durchkommen nicht zu denken. Wir passieren den Polarkreis, neuer Regen setzt ein. Als wir die Richards Mountains überqueren verwandelt der Regen sich in grobkörnigen Hagel, der auf unseren Helmen ein Heidenspektakel verursacht.
Entkräftet, durchnässt und vom Reifen bis zum Helm mit einer dicken Schlammschicht überzogen fahren wir in Fort McPherson ein. Den dortigen Campingplatz säumen jede Menge Wohnmobile, darunter zwei deutsche und eines aus der Schweiz. Die Fähre ist noch immer defekt, aber angeblich sei ein Hubschrauber mit Mechaniker und Ersatzteilen unterwegs. Die Vierradcamper bereiten uns einen Kaffee zu und drücken uns in bewundernder Anerkennung unserer vom Modder geprägten Abenteurer-Erscheinung Bier in die Hand. Der Tag ist endlich wieder unser Freund.
Die Klamotte weich prügeln
Am nächsten Morgen scheint die Sonne, wir befreien die Beleuchtungsanlage und die Kühler von der mittlerweile steinharten Kruste und hauen mit Holzknüppeln unsere Klamotte wieder weich. Fort McPherson erweist sich als sympathisches indigenes Dörfchen der Gwich’in. Auf der Hauptstraße winken uns die Einheimischen freundlich zu und im Gemeindezentrum laden uns die Bewohner zu einem kostenlosen Mittagessen ein. Wir wollen eine Spende dalassen – dürfen wir aber nicht. Schon vor zwei Tagen, noch vor unserer Ankunft, hatte das Dorf die gestrandeten Reisenden zu einem großen Event mit Abendessen eingeladen und das vierjährige Geburtstagskind aus einem der Wohnmobile mit Geschenken überschüttet. Die Herzlichkeit der Gwich’in macht uns sprachlos.
Es geht weiter
Noch zwei Tage später ist die Fähre wieder auf Vordermann, es kann weitergehen Richtung Inuvik. Im Gegensatz zu den Fahrtagen zuvor, bleibt es heute knochentrocken. Und wir erfahren, was Staub bedeutet. Jedes entgegenkommende Fahrzeug breitet seinen Schleier über uns aus. Lkw auf der Gegenspur bedeuten einen kompletten Whiteout mit drei bis vier Sekunden ohne jede Sicht und Orientierung. Höchst gefährlich, aber nicht zu ändern.
Vom Inuit-Städtchen Inuvik aus nach Tuktoyaktuk erwartet uns die letzte und bei weitem schwierigste Etappe auf uns. Zirka 120 Kilometer Tiefschotter lassen das Fahren zum gefährlichen Eiertanz werden. Alles im Stehen zu Fahren, ist sehr anstrengend. Also nur nicht unter 60 km/h fallen, sonst wird es brenzlig. Eigentlich reine Kopfsache, aber dennoch nicht einfach. Zumindest nicht mit zwei beladenen BMWs. Doch die Landschaft hier oben in der grasgesäumten Tundra, weit jenseits der Baumgrenze, ist schlichtweg spektakulär.
Der Moment unseres Lebens
Ein unbeschreibliches Hochgefühl ergreift uns, als wir in dem Fischerdorf am Nordpolarmeer einfahren. Rund 90.000 Kilometer haben wir hinter uns gebracht, um von der Südspitze des amerikanischen Kontinents auf Feuerland bis zum äußersten Norden an der Arctic Sea zu reisen. Wir haben in 16 Ländern unglaubliche Landschaften gesehen, faszinierende Menschen und Kulturen kennengelernt, einen Unfall und gewaltsame Aufstände ebenso überstanden wie das Dengue-Fieber, eine Pandemie und gefühlt 12.000 Pannen. Dschungel, Berge, Wüste, Städte, Küsten – zwischen -15 und +43 Grad. Und wir möchten nichts davon missen. Naja, zumindest nicht viel…
Wir schlagen direkt am Meer bei strahlendem Sonnenschein unser Zelt auf, stecken angesichts der ohnehin nicht mehr untergehenden Sonne immer wieder die Füße ins kalte Wasser. Und stoßen mit einem kanadischen Rum auf all diejenigen an, ohne die dieser Meilenstein in unserem Leben nicht möglich gewesen wäre: UNSERE FREUNDE !
Kilometer: 66043 (+23989)
Unsere Route findet ihr wie immer hier.
Fotos:
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