Wir sitzen fest, am Ende der Welt. Bange warten wir auf eine Nachricht der Werkstatt. Das ersehnte Ersatzteil für die Dakar sollte bereits gestern geliefert werden, war aber doch nicht verfügbar. Obwohl es schlimmere Orte gibt, um festzusitzen, als Ushuaia auf Feuerland, macht sich langsam Frust breit. Denn nach Alaska sind es noch fast 18.000 Kilometer. Luftlinie, wohlgemerkt!

Die Dakar war weit außerhalb Ushuaias heiß gelaufen und musste per Pickup in die 80.000-Einwohner-Stadt zurück transportiert werden (siehe letzter Eintrag). Diagnose: Wasserpumpenlagerung ausgeschlagen und Kühlerventilator defekt. „Den Lüfter wirst du in Argentinien nicht kriegen“, sagt Mechaniker Federico, den die einheimischen Biker „El Mago“ (Zauberer) nennen. Doch am nächsten Tag gibt der Magier Entwarnung: die Lagerung bekommen wir aus Rio Grande, und den Ventilator hat der auf Elektrik spezialisierte Mechaniker Quiquie zerlegt, gesäubert und geschmiert.

Schockierend

Als Federico indes einen Blick auf Andreas GS wirft, verstummt er und wird blass. Der Mechaniker in Puntas Arenas, der an dem feuerroten Spielmobil die Gabelsimmerringe gewechselt hatte, hat offenbar die unteren Gabelklemmschrauben nicht angezogen. Drei davon fehlen bereits, die vierte hängt noch lose auf einigen wenigen Gewindegängen. Oben hatte sich die Gabel bereits einen Zentimeter durchgeschoben. Die nächste Vollbremsung hätte sehr wahrscheinlich einen kapitalen Crash bedeutet. Wir beschließen, den Mann in Punta Arenas auf dem Weg nach Norden einen Besuch abzustatten und zur Rede zu stellen.

Über eine Woche sind wir nun schon am „Fin del Mundo“, dem Ende der Welt, als Federico das Bauteil erhält und wir endlich unsere eigentliche Reise nach Alaska beginnen können. Die Berge östlich der Stadt empfangen uns mit Graupelschauern und Schneeflocken, und bald beginnt wieder der altbekannte brutale Wind, der das Motorradfahren nicht nur anstrengend, sondern immer wieder auch gefährlich macht.

Zurück in Punta Arenas konfrontieren wir den Mechaniker mit seinem Pfusch. Kleinlaut entschuldigt er sich, kauft uns neue Schrauben und bietet uns an, die Motorräder zu waschen. Wir lassen den Dilettanten jedoch kein zweites Mal Hand an unsere Kälber legen, sondern wenden uns stante pede nach Norden gen Puerto Natales.

Puerto Natales

Torres del Paine

Abermals kämpfen wir uns gegen den brachialen Seitenwind vorwärts, phasenweise mit gerade einmal 30 km/h und Schräglage auf gerade Strecke. Doch die Mühe lohnt sich, denn vor den Toren der Kleinstadt liegt eines der Highlights Patagoniens: der Torres del Paine Nationalpark mit seinen berühmten Hochgebirgs-Felsformationen.

Der Park lässt uns den Atem stocken – in jeder Hinsicht. Zunächst an der Zufahrt, denn um hinein zu gelangen müssen wir geschlagene 52 Euro berappen. Nach 20 Kilometern Waschbrettpiste und einem 2-Kilometer Fußmarsch gelangen wir am von Hohen Bergen gesäumten Lago Grey, auf dem tiefblaue Eisberge treiben. Das blaue Gletschereis ist äußerst alt, es verfügt über keine Lufteinschüsse mehr und schimmert deswegen in der ungewöhnlichen Farbe. Die Staubpiste führt uns tiefer in den Park hinein und an den Fuß des Paine-Bergmassivs. Die vom böigen Wind getriebenen Wolkenformationen tauchen die Landschaft in stetig wechselndes Licht. Beim Fotografieren wirft der Sturm die GS kurzerhand um, und die Dakar lässt sich nur mit aller Gewalt in der Aufrechten halten.

Tags darauf schnüren wir die Wanderschuhe und nehmen den beschwerlichen Weg ins Gebirge zu den Torres (Türmen) del Paine in Angriff. Die Wanderung misst mit einfach 8 Kilometern nicht viel Strecke, aber die Kleinigkeit von 800 Höhenmetern geht ordentlich an die Substanz. Immer wieder peitscht uns der Wind Regen ins Gesicht, von den hohen Bergen um uns herum ist nicht viel zu sehen. Im oberen Drittel wird der Weg immer beschwerlicher, der Pfad kreuzt eine Geröllrinne und steigt in einer zweiten steil bergan. Diejenigen Wanderer, die schneller voranschreiten, als wir, kommen uns auf ihrem Rückweg mit enttäuschten Gesichtern entgegen. Die Torres – jene drei weltberühmten Felsentürme, derenthalben man den Weg auf sich nimmt – sind in dichte Wolken gehüllt und schlichtweg nicht sichtbar. Dennoch kämpfen wir uns voran ins Grau. Als wir – vermutlich die unsportlichsten von allen Wanderern – oben ankommen, öffnet sich – wie von Geisterhand gezogen – der Wolkenvorhang und zeigt die zwischen 2600 und 2800 Meter hohen Torres und den vorgelagerten Gletschersee in strahlendem Sonnenschein und mit beeindruckenden Farben. Gebannt beobachten wir das Naturschauspiel. Die majestätisch aufragende Formation gehört zum Spektakulärsten, was wir je gesehen haben.

Wir verlassen Chile wieder einmal gen Argentinien, denn „nebenan“ wartet mit dem Nationalpark „Los Glaciares“ und dem weltberühmten Gletscher „Perito Moreno“ ein weiteres Naturspektakel der Extraklasse. Dort nämlich schiebt sich die gewaltige Eismasse in einen Überfluss zweier Seen. Von mehreren Aussichtsplattformen beobachten wir das Kalben des Perito Moreno, sprich das Abbrechen großer Eismassen in die beiden Seen. Immer wieder zeigt der Gletscher mit lautem Krachen, dass er stark in Bewegung ist. Allenthalben fallen große Eismassen von diesem Teil des großen Inland-Eispanzers ab, der auf einer Länge von 5 Kilometern bis zu 70 Meter in die Höhe ragt.

Wir beschließen, ein wenig Zeit aufzuholen und starten gen Norden, wo wir bei Chile Chico wieder in Nachbarland wechseln und schließlich ein weiteres Mal auf die Carretera Austral einbiegen wollen. Im nahen Calafate hat sich eine mehrere hundert Meter lange Schlange vor der Tankstelle gebildet. Es hätte Stunden gedauert, an Sprit zu kommen. So beschließen wir, im 120 Kilometer entfernten Tres Lagos zu tanken, eine gottverlassene, wenig attraktive Ansammlung von Häusern. Unser Sprit reicht bis zur dortigen Tankstelle – wiederum gegen einen martialischen Seitenwind, der uns nicht nur das Fahren zur Hölle macht, sondern auch noch den Spritverbrauch in utopische Höhen treibt.

No combustible – kein Sprit

Als wir in Tres Lagos an die Zapfsäule fahren, begrüßt uns ein gelangweilt aussehender Mann mittleren Alters mit halboffenen Augen und den spröden Worten „No combustible“ – kein Sprit! Der Lkw sei nicht gekommen, wir müssten warten bis Sonntag. Drei Tage in dem jämmerlichen staubigen Nest? No way. Nach einiger Diskussion verkauft uns die Chefin aus der eisernen Reserve schließlich fünf Liter pro Motorrad. Zusammen mit unserem Vorrat in den Kanistern bringt uns das zwar nicht in unsere Richtung nach Gobernador Gregores, aber zumindest die 110 Kilometer in die Gegenrichtung nach El Chalten, wo obendrein eine faszinierende Berglandschaft wartet. Und – hoffentlich – Benzin.

Wo wir schon einmal da sind, schnallen wir einmal mehr die Wanderschuhe unter und machen uns auf einen Pfad in die Berge, wo wir an einem Aussichtspunkt einen Blick auf den 3400 Meter hohen Fitz Roy zu erhaschen hoffen. Quasi das argentinische Gegenstück zu den chilenischen Torres del Paine. Diesmal haben wir jedoch weniger Glück, der heranziehende Regen hüllt den Granitberg in dichten Nebel.

Ein neuer Anlauf

Doch wenigstens hat die winzige Tankstelle genug Benzin, um unsere Tanks und die Kanister zu füllen, sodass wir uns weiter gen Norden und schließlich wieder auf die Ruta 7 machen können. Denn den größten Teil der Carretera Austral haben wir im strömenden Regen fahren müssen, und wegen der tief hängenden Wolken von der atemberaubenden Landschaft nicht gesehen.

Diesmal soll es also klappen mit den faszinierenden Landschaften und den tollen Fotomotiven. Wir biegen ein auf die Carretera, die in den Siebzigern von Diktator Pinochet zur Versorgung Patagoniens auf dem Landweg gebaut wurde. Und, als wollte die Ruta uns narren, kurz vor Coyhaique verdichetn sich die Wolken und alsbald zieht Regen auf, der einmal mehr alles in einen dichten Grauschleier hüllt. Einmal mehr fahren wir Pass um Pass auf der Carretera, ein Blick in die Berge bleibt uns abermals verwehrt. Sei s drum, es hat nicht sollen sein.

Entschädigung

Bezeichnenderweise reißen die Wolken auf, nachdem wir die Carretera verlassen haben und auf den Futaleufu-Pass hinüber Richtung Argentinien eingebogen sind. Die Schotterstrecke bietet faszinierende Ausblicke über blaue Seen hinweg auf schroffe Felsen, immer wieder passieren wir Wasserfälle und Wildflüsse, bis uns die Bergstrecke schließlich im argentinischen Esquel wieder ausspuckt.

Auf dem Pass hat der Auspufftopf der GS seine Halteschelle abvibriert, weshalb wir uns in der Stadt zu einem Betrieb durchfragen, der das Aluminiumteil für ein paar Pesos wieder zusammenpappt.

Das Klima wird immer wärmer, wir spüren deutlich, dass wir uns bereits einige tausend Kilometer von der südamerikanischen Südspitze entfernt haben. Über das sympathische kleine Hippie-Städtchen El Bolson und San Martin de Los Andes erreichen wir über den Paso Hua Hum schließlich Conaripe am Fuß des majestätischen Vulkans Villarica. An einem der vielen Campingplätze können wir für einen lächerlichen Betrag unser Zelt direkt am Lago Colafquen aufschlagen, in dem wir uns von hochsommerlichen Temperaturen abkühlen.

Im Reich der Vulkane

Tags darauf zieht es uns wiederum in die Berge, wo wir im Villarica Nationalpark eine schweißtreibende Wanderung auf einen Aussichtspunkt auf einer Bergkuppe absolvieren. Es sind wieder einmal 550 Höhenmeter, aber der abwechslungsreiche Weg führt uns über einen Wildfluss hinauf zu einem Araukarienwald und schließlich über ein Vulkanaschefeld mit letzten Schneeresten zu einem Punkt, wo ringsum gleich fünf große Vulkane zu sehen sind. Der stetig rauchende Villarica scheint wie zum Greifen nahe.

Heilig Abend steht vor der Tür, und auf der anderen Seite des Berges lockt das „Motocamp“ Biker aus nah und fern mit einem Campingplatz und Cabanas, einem Biergarten direkt am Fluss und einer Selbstschrauberwerkstatt. Als wir ankommen, werden wir jedoch barsch abgewiesen mit dem Hinweis, dass der Betrieb erst am 25.12. öffnet. So fahren wir schließlich weiter zu einem Agrocamp bei Carburgua, deren freundliche Wirtin uns das riesige Areal am Fluss unter hohen Bäumen mit allen Facetten zeigt. Sogar ihre Partyhütte mit Feuerstelle dürfen wir benutzen. Wir haben die komplette riesige Wiese allein für uns, außer dem Rauschen des Winds in den Bäumen und den fernen Schreien der Greifvögel in der Höhe herrscht völlige Stille. Weihnachten feiern wir bei einer Flasche Rotwein am Lagerfeuer und rösten Marshmallows. In der Tat eine stille Nacht, allerdings ohne Schnee, aber mit einem beeindruckenden Sternenhimmel.

Unsere arachnide Freundin

Wir halten uns weiter gen Norden und machen uns auf den langen Weg Richtung Santiago zu unserem Freund Raul, den wir auf der Carretera Austral in Richtung Süden kennengelernt haben. Bei ihm können wir die Bikes warten, Reifen wechseln und beschädigtes Equipment reparieren. Mittlerweile dringend nötig, der Hinterreifen der GS hat kein Profil mehr, bei der Dakar sind gar beide fällig. Das heißt auf der letzten Etappe Kilometerfressen auf der Autobahn. Bei San Javier schlagen wir unser Zelt noch einmal im Hinterland auf. Dort bekommen wir Besuch von einer neugierigen Tarantel, die sich unser Zelt mal von innen ansehen möchte. Doch unsere arachnide Freundin zieht wieder von dannen, als wir ihr freundlich klar machen, dass da kein Platz ist für uns drei.

Die Straße brennt

Auf der Ruta 5 passieren wir unzählige Zahlstellen, die uns das letzte Bargeld aus der Tasche ziehen und keine Kartenzahlung akzeptieren. Damit sind wir gezwungen, die letzten 100 Kilometer per Navigation unter Umgehung von Mautstellen zu absolvieren. Das GPS führt uns an den Außenbezirken von Santiago kilometerweit über eine Bauschutthalde, auf der sich in der Hitze bereits einige trockene Büsche entzündet haben und lichterloh brennen. Eine Szenerie, die auch in einem Krisengebiet im Nahen Osten spielen könnte.

Die erste Reifenpanne

Als wir schließlich entscheiden, umzukehren, kommt es wie es kommen musste: Andrea hat sich eine Schraube in den Hinterreifen gefahren. Bei rund 30 Grad schleppt sich die GS im Schritttempo unter eine Brücke. 50 Kilometer vor dem Wechsel des Reifens müssen wir unterwegs am Wegesrand tatsächlich noch das Hinterrad ausbauen, den Reifen abhebeln und den Schlauch flicken. Gleichsam ein letztes Aufbäumen des Pneus, um es uns so schwierig zu machen, wie möglich.

So kommen wir schließlich mit reichlich Verspätung bei Raul an, der uns mit einem kalten Bier und leckeren Hotdogs erwartet. Die Gastfreundschaft, die uns unser chilenischer Freund angedeihen lässt, ist schlicht atemberaubend. Wir nehmen unsere Aufgaben in Angriff: Wäsche und Fahrerklamotte waschen, Motorräder warten, Kocher auf Vordermann bringen und zwischendrin immer mal wieder in den Pool springen. Das Leben könnte schlimmer sein.

Zusammen mit Raul und seiner Schwester Carmen

Ab in die andere Hauptstadt

Zum Jahreswechsel queren wir wieder einmal die Grenze, diesmal allerdings per Flugzeug: Wir folgen der Einladung unseres Freundes Ricardo und fliegen nach Buenos Aires. Ein weiteres Mal dürfen wir die unglaubliche Gastfreundschaft der Südamerikaner genießen. Mit einem echten argentinische Asado (zu deutsch: Barbecue :o) mit leckeren Ribs, Steaks und Würsten, aber auch Auberginen und mit Ei und Käse gefüllten Paprika feiern wir ins Jahr 2020.

Wir sind sofort Teil der Familie, selbst die beiden Omas begegnen uns mit unglaublicher Herzlichkeit. Ricardo und seine Frau Sandra zeigen uns die schönsten Flecken der riesigen Stadt, darunter das mondäne San Telmo oder das Arbeiterviertel La Boca – bekannt durch den traditionsreichen Fußballclub Boca Juniors – in dem jeder Stein Fußballgeschichte atmet. Besonders beeindruckend: das ausschließlich per Boot erreichbare Ferienhaus der Familie im Grünen mit einem Areal von nicht weniger als einem Hektar.

Wir können uns kaum losreißen von der Mega-City, doch unser Flug nach Santiago und unser Start nach Norden stehen bevor. Und unser Freund Raul wird uns eine Weile auf unserem Weg begleiten.

Kilometer: 12.822