In die Mangroven im Reich der Drogenkartelle, zu Jahrtausende alten Relikten direkt zwischen unseren Zehen und zu einer epischen „Eisenbahnfahrt“. „Hans Loco“ – die Bike Voyagers auf verrückten Abwegen.
Öde und vom Ruß der Busse und Lkw geschwängert ziehen sich die Kilometer auf der Panamericana wie Kaugummi. Wer glaubt, dass es sich dabei um eine Traumstraße handelt, hat die ätzende Piste noch nie gesehen. Unser Ziel ist die Finca Sommerwind etwas außerhalb von Ibarra, ein Overlander-Campingplatz, den der gebürtige Bergisch Gladbacher Hans betreibt. Der Rheinländer hat sich in Ecuador niedergelassen und eine Familie gegründet. Wir treffen dort Robert und Barbara, die ebenfalls mit zwei F650GS um die Welt fahren.
Im deutschen Biergarten bei Wiener Schnitzel und Altbier erzählt Hans uns von seiner Tour „Loco“ (Spanisch für „verrückt“ oder „durchgeknallt“). Ein 3-Tages-Trip an die Küste, wo sich nie ein Tourist hin verirrt, aber unglaubliche Kleinode darauf warten, entdeckt zu werden. Wir sind Feuer und Flamme, schließlich ist es genau das, was wir sehen wollen: Die Ecken, in denen Ecuador am authentischsten ist.
Ins Reich der Drogenkartelle und Paramilitärs
Schließlich quetschen wir uns zu fünft in eine angemietete Chinesen-Schüssel und fahren – ausnahmsweise auf vier Rädern – gen Norden in die Region von Esmeraldas, die seit jeher für ihren Umtrieb durch Drogenkartelle und Paramilitärs berüchtigt ist. Tom hatte sich eine Erkältung eingefangen – und sorgt allenthalben als hustender Europäer für ein wenig Unwohlsein bei den Einheimischen. Unsere erste Station ist ein Betrieb, in der Kakaobohnen verarbeitet und für den Export vorbereitet werden. Der Inhaber zeigt uns alle Verarbeitungsschritte, und welche Qualität seine Kunden erwarten.
Die Menschen hier an der nördlichen Küste sind fast ausschließlich schwarzer Hautfarbe, Latinos sind die Ausnahme. Nach Beendigung der Sklaverei in Ecuador im Jahr 1851 haben die frisch in die Freiheit Entlassenen diese Region als ihre neue Heimat erkoren. Zu ihren afrikanischen Heimatländern, aus denen ihre Vorfahren viele Generationen zuvor verschleppt worden waren, hatten sie keinen Bezug mehr. Und auch die wenigsten der heute dort Lebenden kennen ihre geografischen Wurzeln.
Das feuchtwarme Klima lässt uns aus allen Poren triefen, doch der lauwarme Pazifik und der Hotelpool samt eiskaltem Bier bringen unser Wohlbefinden wieder auf Vordermann. Auf die Seafood-Platte in Hans Leib- und Magenrestaurant mit direktem Blick auf den anbrandenden Ursprung des Gerichts ist der Rheinländer sichtlich stolz.
Nicht am Tegernsee
Am nächsten Morgen fahren wir gen Borbon am Rio Cayapas. Dass wir hier nicht gerade am Tegernsee sind, führen uns die ausgeschossenen Patronenhülsen vor Augen, die wir auf der Straße finden. Wir steigen in ein Langboot, das Hans angemietet hat, und schippern den Fluss hinunter. Ein entsetzliches Bild bietet sich uns: Von den meisten der Kokos-Palmen steht nur noch ein toter Stamm. Ein Schädling, der den Bäumen den Garaus macht, greift hier rasend um sich und entzieht den hiesigen Familien ihre Lebensgrundlage.
Wir legen vor dem Haus einer ärmlich wirkenden Familie an. Aus dem Schlick zieht Hans eine Reihe von Tonscherben. Jedes Stück 2500 Jahre oder älter! „Die stammen von der La Tolita Kultur und gehören zu Werkzeugen oder Kultgegenständen“, erklärt der Mittsechziger. Die Fundstücke liegen hier zu Tausenden im Schlick oder werden von der Tide angespült.
Jahrtausende alte Fundstücke bleiben im Schlamm
Die Museen sind bis zum Dach voll von den Relikten, und so bleibt der riesige Rest einfach dort, wo er ist. Die Mädchen des Hauses bieten uns Figurinen zum Kauf an. Wir lehnen aus Respekt vor dem alten Kulturgut selbstverständlich ab.
Auf der Hauptinsel La Tolita erfahren wir in einem kleinen Museum mehr über die Kultur, die vor 2500 Jahren hier siedelte. Es besteht aus einem einzigen Raum, in dem etwas wirr Fundstücke ausgestellt sind. Auf der Innenseite der knarzigen Holztür indes prangt ein verblichener Schnipsel einer barbusigen weißen Schönheit neueren Datums. Ein prächtiges Artefakt zeigt einen Scharfrichter bei der Hinrichtung eines Delinquenten.
Neue Fähren verrotten im Schlamm
Die Szenerie auf der Insel wirkt ein wenig surreal: Einige Kinder schauen uns in ihren Schuluniformen interessiert zu, schließlich bekommen sie eher selten Weiße zu Gesicht. Andere spielen neben den 2500 Jahre alten Hügelgräbern mit Inbrunst Fußball. Der verflossene Staatspräsident war von La Tolita so begeistert, dass er hier eine Art Kultur-Tourismus aufziehen wollte. Die Insel verfügt seitdem über einen hochmodernen Ponton-Anleger und drei Diesel-Fähren, die bis heute allerdings noch nie einen einzigen Passagier transportiert haben und im Schlick vor sich hin korrodieren. So ist Südamerika.
Wir schippern weiter in einen der weit verzweigten Seitenkanäle. Es stellt sich eine düstere, gespenstische Atmosphäre ein, als unser Bootsführer den Motor abstellt. Wir treiben dicht an der kolumbianischen Grenze zwischen den größten Mangroven der Welt. Bäume, die von oben nach unten wachsen. Die völlige Stille wird einzig vom lauten Klicken der kleinen roten Krebse unterbrochen, die sich auf den riesenhaften Bäumen tummeln.
Was die Atmosphäre noch mehr mit Spannung lädt, ist die Tatsache, dass in diesen Kanälen einige der Mini-U-Boote gefunden wurden, mit denen die Drogenkartelle ihre illegale Ware auf Hochseefrachter schmuggeln. Daher machen wir auch bald wieder kehrt und laufen den Anleger eines Kokosnuss-Bauern an. Die große Hütte auf Stelzen direkt am Wasser beherbergt nichts außer zwei riesenhaften Lautsprechern. „Das ist die Dorfdisko“, sagt Hans, „hier rücken sie am Wochenende per Boot zum Partymachen an.“ Nun gut. Direkt vom Baum dürfen wir aus der frisch geköpften Nuss die leckere Milch trinken. Unterschiedliche Sorten und verschiedene Reifegrade resultieren dabei in unterschiedlichen Aromen, wie wir erfahren.
Blaue Krebse als Standbein
Plantagenbesitzer Javier ist mit einem dritten Standbein vor dem Schädling gewappnet: Er züchtet die blauen Krebse, die hier heimisch sind und in Ibarra oder Quito als Delikatesse eine Menge Geld einbringen. In einem Basin mit Wasser tummeln sich die einträglichen Scherenträger. Warum der Kokosbast ungenutzt im Feld verrottet, kann uns indes niemand beantworten.
Eine Kooperation der besonderen Art erwartet uns auf dem Anwesen des Bootsführers. Dort nämlich wird die leckere Cocata hergestellt, eine mehrfach aufgekochte Melasse aus Zuckerrohr, mit süßen Gewürzen und Erdnüssen. Die Masse wird zum Füllen von Pralinen und Gebäck verwendet – oder verschwindet einfach direkt in des Genießers Schlund. Die gehaltvolle Leckerei würde auch als Astronautennahrung durchgehen. Jedenfalls ernährt die Süßigkeit gleich vier Familien, die ihren Teil beisteuern, und wartet momentan sogar auf ihre Bio-Zertifizierung.
Das abgedrehteste „Museum“ erwartet uns anderntags in „Africa“, so heißt das kleine Fleckchen direkt am Pazifikstrand. Die üble Holperpiste malträtiert den ohnehin schon geschundenen kleinen Chinesen noch zusätzlich. Wir gelangen zu einer Hütte – eigentlich nur wenig mehr als eine krude Bretterbude – in dem Arquímedes Simisterra seit knapp einem halben Jahrhundert mehrere Tausend Artefakte und Fundstücke aller nur denkbaren alten Kulturen in Lateinamerika gesammelt hat. In dem wilden Durcheinander eine Ordnung zu finden, ist nicht leicht. Einige der Exponate sind extraterrestrisch, so ist sich Arquímedes sicher. Denn Aliens seien auch schon hier gewesen – an einem Punkt, an dem sich kosmische Energien haufenweise bündeln.
Übernachten zwischen den Artefakten
Zwischen den Exponaten kann der althistorisch oder esoterisch Beflissene sogar übernachten: Mitten im Museum steht ein Bett, von dem aus man wahlweise den Pazifik oder die Artefakte längst vergangener Kulturen bewundern kann. Darüber, dass sich dazwischen auch einige wenige Tonscherben von billigem Baumarkt-Kitsch eingeschlichen haben, muss der Kulturfreak einfach großzügig hinwegsehen.
Wir schaukeln die China-Klitsche wieder in Richtung Ibarra, wo auf dem Weg noch das vielleicht größte Highlight der Loco-Tour wartet. Die in den Achtzigerjahren stillgelegte Bahntrasse von Ibarra hinunter nach San Lorenzo machen sich die Einheimischen zunutze. Die nämlich haben sich kleine „Loks“ zusammengedengelt, mit breiten Rädern und einem Automotor versehen und fahren damit auf den alten Schienen. Hinunter zu zwei Dörfern mitten im Regenwald. Oder sie versorgen legale oder illegale Goldminen mit den abenteuerlichen Gefährten. Oben oder unten im Dorf werden die Loks gewendet. Mit einem Wagenheber, den die Piloten mittig am Schwerpunkt ansetzen und auf dem Punkt das Gefährt um 180 Grad drehen. Klingt abenteuerlich? Ist es auch.
Wir steigen in den Zossen
Wir steigen in das lärmige Fliewatüt mit dem Isuzu-Vierzylindermotor, das Hans für eine Fahrt gemietet hat. Fieser, alles durchdringender Regen hat eingesetzt, als wir die Schienen entlang rattern. Unser Fahrer ist 15. Doch er weiß genau, wo es kritisch wird und eine gemächliche Gangart angezeigt ist. Immer wieder stockt uns der Atem, wenn die steinalten, praktisch nicht in Schuss gehaltenen Schienen zur Seite wegknicken, weil das Verbindungsglied fehlt. Das sorgt besonders neben den tiefen Abhängen für gesteigertes Fahrvergnügen. An Bord herrscht gute Stimmung – vielleicht so etwas wie Galgenhumor?
Der Wasserfall knapp oberhalb des ersten Dorfs, an dem unsere Fahrt endet, fällt angesichts des strömenden Regens kaum mehr auf. In unglaublich schöner Natur besorgt der Wagenheber die Wende und wir fahren wieder bergan. Diesmal sind wir allerdings zu siebt, und unterwegs springen noch zwei Jungs auf, die aus ihrer illegalen Mine schon zweieinhalb Tage unterwegs sind – zurück in die Zivilisation. Einer von beiden trägt eine Machete und Gummistiefel, gezeichnet von der schweren Arbeit beim illegalen Goldschürfen. Auf dem Rücken ein pinker Kinderrucksack. Könnte „Hello Kitty“ sein. Beide sind bester Laune. Das bedeutet, dass sie das eine oder andere Nugget gefunden haben. Ist bei der Schinderei tagein, tagaus nix rausgesprungen, sei mit solchen Jungs nicht gut Kirschen essen, so Hans.
Ein Mitfahrer springt mit einem Hammer aus der Lok
Plötzlich halten wir an. Einer der Mitfahrer springt mit einem Hammer aus der Lok in den Regen und haut links hinten auf das Fahrwerk ein. Ein weiterer Versuch, noch ein paar hundert Meter weiter, dann geht nichts mehr. Wir müssen laufen. Über die teils verrotteten, überfluteten oder gänzlich fehlenden Schwellen. Immer wieder sinken wir bis zur Wade in den Schlamm ein. Nach zirka einem Kilometer kommt schließlich Rettung – eine zweite Lok, die uns Schiffbrüchige aufnimmt und zum sicheren Hafen geleitet.
Geflasht von den Erlebnissen, einem Abstecher unserer Reise, den wir so niemals erwartet hätten, steigen wir wieder in den Chinesen. Geflasht von einem Teil von Ecuador, das kein Tourist zu Gesicht bekommt. Und von Menschen, die wir ohne die Hans Loco Tour nie kennen gelernt hätten. All das gibt uns Energie für die neuen Abenteuer, die kommen. Und die Pannen, die uns von Neuem heimsuchen.
Kilometer: 9140 (+23989)
Unsere Route findet ihr wie immer hier.
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