Höllische Kopfschmerzen holen mich aus dem Schlaf. Kein Wunder, der Vorabend war etwas entgleist und das Cerveza „Baltica“ aus dem Bottleshop nebenan hat sich als erbarmungsloser Schädelspalter erwiesen. Zu allem Überfluss schaffen die Lkw, die direkt vor unserem Fenster den steilen Berg hinaufschnaufen, eine infernalische Geräuschkulisse.
Treffender hätte der Name der Villa Kunterbunt nicht gewählt sein können – jener Bikerherberge, die von der Ex-Kölnerin Martina und ihrem chilenischen Ehemann Enzo in Valparaiso/Chile betrieben wird. Nach ein wenig Suchen haben wir das alte Gebäude im Kolonialstil endlich gefunden. Martina empfängt uns mit einem herrlich kalten Baltica. Bei einem ersten Schwätzchen fällt die Anspannung von uns ab, die das Abholen der Motorräder aus dem Zoll in Valparaiso und die ersten Kilometer auf einem neuen Kontinent mit sich brachten.
Tags zuvor waren wir aus unserer Heimat Düsseldorf nach Santiago de Chile angereist, wo wir noch mit Jetlag in den Knochen die Altstadt erkundeten. Nach einer abermals eher kurzen Nacht in Santiago holte uns unser Agent Ronny Tesch ab und fuhr mit uns in die Hafenstadt Valparaiso. Mit beeindruckender Routine absolvierte der ausgewanderte Bremer den Papierkrieg und gab uns obendrein wertvolle Tipps zum Reisen in Südamerika.
Die GS zögert
Nicht ganz so routiniert absolvierte Andreas GS das Procedere. Noch im Zollgebiet schließen wir die zum Transport abgeklemmten Batterien wieder an. Die rote BMW macht keinen Mucks. Wir hatten vergessen, das Dguard SOS-System abzuklemmen. Das Helferlein hatte sich also sechs Wochen lang vom Saft der Batterie bedient und dem Anlasser nichts davon übrig gelassen. Also in dem Wust von Gepäck die Startkabel gesucht und von der Dakar Saft ans Schwesterlein überbrückt, schon lief das feuerrote Spielmobil.
Wir realisieren noch immer nicht, dass wir im Begriff sind, unseren Lebenstraum in die Tat umsetzen. In der urigen, wenn auch recht speckigen Küche der Villa treffen immer mehr Leute ein, Ronny und sein Freund Nils ebenso wie ein weiteres deutsches Pärchen, das tags darauf in San Antonio ihren Allrad-Suzuki aus dem Zoll holen wird. Die Themen kreisen ums Reisen, Motorräder, Chile und seine Geschichte sowie alle mögliche Dos und Don’ts, Dabei gibt ein Baltica das andere, mehrfach werden wir beim Bottleshop vorstellig, um für Cerveza-Nachschub zu sorgen.
So langsam rückt der Stress und die jüngsten Rückschläge und Enttäuschungen der letzten Wochen in den Hintergrund. Zu letzteren gehört beispielsweise Toms Arbeitgeber, der ihm eineinhalb Jahre lang das Blaue vom Himmel versprochen hatte und ihn dann eine Wochen vor Abflug zur Kündigung zwang. Oder seine Diagnose Bandscheibenvorfall eine Woche vor Abreise – gleich an drei Bandscheiben der Halswirbelsäule. Die Folge: Schmerzen bei verschiedenen Bewegungen und ein immer wiederkehrendes Kribbeln im rechten Daumen. Wie weit am Stück Motorradfahren möglich sein wird, zeigen die nächsten Tage. Oder die Tatsache, dass unsere Wohnung noch immer nicht zwischenvermietet ist.
Die alte Hafenstadt verfällt
Die extremen Strapazen der letzten Monate und die geschlagenen eineinhalb Jahre Vorbereitung des Trips liegen nun also hinter uns. Bei sonnigen 27 Grad erkunden wir die alte Hafenstadt Valparaiso, die in jüngster Vergangenheit jedoch wirtschaftliche Rückschläge hinnehmen musste und obendrein so gut wie keine Industrie aufweisen kann.
Das zeigt sich auch am Stadtbild. Verfallene Bauten aus der Jahrhundertwende oder aus dem 19. Jahrhundert säumen allenthalben unseren Weg durch die Altstadt. Ein Teil der „Ascensores“ – jener bergbahnähnlichen Personenaufzüge – sind stillgelegt. Dennoch lässt sich erahnen, welche Pracht hier einst geherrscht haben muss. Von den Hügeln aus und dem malerischen, verwinkelten Stadtteil Conception ergibt sich ein fesselnder Blick über den Containerhafen. Wir sehen zu, wie ein kleines U-Boot der chilenischen Marine anlegt und ein großer Frachter entladen wird.
Stück für Stück überträgt sich die Gelassenheit der Chilenen auch auf uns. Die nächsten Tage werden wir mit dem Ordnen unseres Gepäcks und der ersten Planung unserer weiteren Route zubringen. Und mit dem Realisieren, dass wir für ein Jahr keinen Stress und Zeitdruck mehr haben werden.