Wir verlassen Laos gen China und Tibet. Fast 7000 Kilometer liegen vor uns. Und wir haben kaum eine Vorstellung vom Reich der Mitte. Genau diese Tatsache wird uns einige faustdicke Überraschungen bescheren. Positiver und negativer Art.
Morgens um sieben treffen wir unsere Reisegruppe an der Grenzstation auf der laotischen Seite. Die besteht neben dem englischen Motorradreisenden Chris und uns ausschließlich aus Fahrzeugen mit vier und sechs Rädern. Anders als mit einer chinesischen Agentur ist es nur schwer möglich, China mit dem eigenen Fahrzeug zu bereisen. Und im Fall von Tibet dürfte die Chance gar gleich null sein.

Wir sind traurig, Laos zu verlassen, denn das von den USA während des Vietnamkriegs in Armut und Leid gebombte Land mit seinen Natur- und Kulturwundern sowie seinen herzlichen Menschen hat uns in seinen Bann gezogen.
Die Formalitäten ziehen sich über einen Tag
An der Grenze treffen wir auch den Agenten Edward – Chinesen tendieren dazu, sich westliche Namen zu geben – und die als Guide angestellte Alex. Sie organisieren mit den vorbereiteten Dokumenten den Grenzübertritt. An der chinesischen Grenze lassen wir die Gesichtserkennung und alle anderen Malaissen über uns ergehen. Ein Vorgeschmack auf einen totalitären Überwachungsstaat. Die Grenzen sind in halbwegs erträglicher Zeit absolviert, doch die Ausstellung unserer ebenfalls vorbestellten SIM-Karten zieht sich über Stunden hin. 20 Kilometer weiter bekommen wir auf einem Amt unsere chinesischen Führerscheine und unsere neuen Kennzeichen – beides im Scheckkartenformat – ausgestellt. Und beides hat eher symbolischen als praktischen Wert.

Nach einer ausführlichen Belehrung im Stil einer Schulklasse, wie man sich im chinesischen Straßenverkehr zu verhalten hat, dürfen wir schließlich unseres Weges fahren. Die Situation birgt eine irre Komik. Denn da versucht ein Provinzsheriff die Verkehrsregeln zu vermitteln – an Globetrotter, die bereits die Straßen auf allen Kontinenten unter den Rädern hatten.

Ein anderer Planet
Gegenüber Laos fühlen wir uns wie auf einem anderen Planeten. Perfekte Infrastruktur, nagelneue Straßen, einwandfreies Handynetz. Und überall Überwachungskameras mit Gesichtserkennung sowie Kameras auf den Highways, die die Kennzeichen scannen.
Für heute dürfen wir auf eigene Faust weiterfahren, doch schärft uns Alex ein, sie stets auf dem Laufenden zu halten, wo wir uns befinden. Statt hinter den Campern – jenen Blech gewordenen, rußenden Wanderdünen – her zu fahren, entscheiden wir uns mit Chris in der nächsten größeren Stadt Jinghong, am Ufer des Mekong, zu nächtigen. Wir staunen über die gute, klare Luft, mitten in der Großstadt. Und es fällt uns auf, dass wir fast ausschließlich von Elektrofahrzeugen umgeben sind.

Obwohl wir gegen 5 Uhr aufgestanden sind und den ganzen Tag auf Achse waren, machen wir uns auf den Weg zu dem riesigen Nachtmarkt. Sauber und geordnet, fast schon steril – das genaue Gegenteil der laotischen Märkte. Von unserem Hotelzimmer sehen wir über die halbe Stadt hinweg. Hier gäbe es noch mehr zu erkunden, eine Situation, in der wir klassischerweise einen weiteren Tag dran hängen würden. Geht aber angesichts der Gruppentour nicht. So starten wir am nächsten Morgen mit Chris gen Dali in der benachbarten Provinz Yunnan, einer historischen Stadt, die uns stark in ihren Bann ziehen wird.

Wir atmen 3000 Jahre Geschichte
Die Chinesen sind äußerst freundlich und zuvorkommend zu uns. Wenn auch stets neugierig und manchmal etwas aufdringlich. Wir beziehen einen süßen kleinen Campingplatz am Rande von Alt-Dali und machen uns auf den Weg hinauf zu den drei Pagoden des Chongsheng-Tempels. Das riesige Areal überragt die 1200 Jahre alte, 70 Meter hohe mittlere Pagode. Es verströmt etwas Souveränes, Majestätisches, Ruhiges – fast eine Art von Magie – und wir realisieren langsam, dass wir im Reich der Mitte angekommen sind. Ehrfürchtig streifen wir durch die Anlage und atmen 3000 Jahre Geschichte.

Die benachbarte historische Altstadt wurde beim Sturm durch die Mongolen zerstört und in der Ming-Dynastie wieder aufgebaut. Wir lassen uns treiben durch das wuselige Zentrum. Düfte von uns bis dato unbekannten Speisen streicheln unsere Nasen.

Unfassbare Hilfsbereitschaft
Am nächsten Tag macht sich Tom auf die Suche nach einer Motorradwerkstatt. Noch in Laos war seine hintere Bremse ausgefallen – Zeit, dem Problem auf den Grund zu gehen. Und die Wahl der Werkstatt erweist sich als Glückstreffer. Inhaber Tan ist begeistert, dass Motorrad-Globetrotter aus Europa in seinen Betrieb kommen. Zunächst gibt es Tee für Tom und Chris, dann Gebäck und schließlich jede Menge Aufkleber. Für die Dakar lassen die Motorradspezialisten alles andere stehen und liegen.

Das Problem ist schnell gefunden. Die Bremsleitung war am Anschluss abgerissen. Der gut vernetzte Tan klemmt sich ans Telefon und treibt tatsächlich eine passende Leitung auf, die schon zwei Stunden später installiert und befüllt ist. Auch die abgefahrenen vorderen Bremsbeläge tauscht sein Mechaniker in der Zwischenzeit. „Es ist mir eine Ehre, Dir dabei zu helfen, Deine Reise fortzusetzen“, sagt Tan sichtlich gerührt. So sehr Tom auch winselt, wenigstens die Teile bezahlen zu dürfen – vergebens.

Bier für die Mechaniker, Äpfel für die Globetrotter
Am nächsten Tag rücken wir mit einer riesigen Kiste Bier als Dankeschön an. Wieder gibt es Tee, wir dürfen unsere Motorräder waschen. Und schließlich kleben die Jungs von Bapmed je einen großen Plastikapfel auf die drei Motorräder. In China steht der Apfel für Friede, Freundschaft, Harmonie.

Tief beeindruckt von so viel Güte setzen wir den Trip fort. Wir entscheiden uns für einen Abstecher zu einem ganz besonderen Dorf. Shaxi stammt aus dem 7. Jahrhundert und war ein florierender Handelsplatz entlang der zwischen China und Burma beziehungsweise Indien verlaufenden Alten Tee-Pferdestraße. Der einstige Reichtum lässt sich angesichts der pompösen Gebäude, des Theaters und des buddhistischen Tempels heute noch erahnen. Die Pferdekaravanen machten hier Station oder schlugen Tee und Salz um.

Nach einem kleinen Imbiss machen wir uns auf den Weg nach Lijiang, wo unser Trupp auf einem Campingplatz bereits auf uns wartet. Es ist kalt und regnerisch. Wir befinden uns zwar noch in der Provinz Yunnan, doch der Höhenmesser zeigt bereits 2400 Meter. Wir sind auf dem Weg in den Himalaya. Um uns an die Höhe zu gewöhnen, sind hier drei Nächte eingeplant. Auch Lijiang lag an der Tee-Pferderoute, doch im Gegensatz zu Shaxi hat man hier die Altstadt zu einem sterilen Vorzeigeort für Touristen herausgeputzt, bei dem seine historischen Wurzeln nur selten aufblitzen. Die Läden wiederholen sich: Schmuck, Souvenirs, Bubble Tea, etc.

Wir amüsieren uns über die Chinesen, von denen ein großer Teil permanent aus einer Sauerstoffkartusche inhaliert. So, wie andere an einer Zigarette ziehen. Noch einmal: Wir sind gerade einmal auf 2400 Metern! Was machen diese Leute, wenn sie tatsächlich einmal eine signifikante Höhe erreichen?
Wir machen uns aus dem Staub
Nach zwei Nächten fällt uns die Wolkendecke auf den Kopf, und wir holen uns von Alex die Erlaubnis ein, schon einen Tag früher zu unserer nächsten Station vorzufahren. In einer Regenpause machen wir uns auf den Weg nach Shangri La. Die Route besteht zwar in der Hauptsache aus Autobahn und gefühlt zu 90 Prozent aus gut ausgebauten und vor allem beleuchteten Tunneln. Doch erhaschen wir immer wieder Ausblicke auf die umliegende Bergwelt mit tiefen Schluchten.
Der anvisierte Campingplatz ist uns zu sehr heruntergekommen und obendrein noch 10 Kilometer von Shangri La entfernt. So entscheiden wir uns für ein Hotel in der Stadt. Eine gute Entscheidung, denn die Altstadt ist ungleich attraktiver und vor allem authentischer als in Lijiang – auch wenn der Name erst 2001 von Zhongdian in Shangri La geändert wurde, um mehr Touristen anzulocken. Der nämlich entstammt dem Roman „Lost Horizon“ von James Hilton und bezeichnet in dem Werk einen fiktiven Ort irgendwo im tibetischen Hochland.

Tibetische Kultur und Küche
Hier leben auch zu einem großen Teil Tibeter, die ihre Kultur und ihre Kulinarik darreichen. Wir besuchen ein tibetisches Restaurant und probieren Momos, mit Yak-Fleisch gefüllte Teigtaschen, und tibetischen Tee. Die Stadt wird vom weithin sichtbaren Guishan-Tempel und der mit 21 Metern größten Gebetsmühle der Welt überragt. Rund 20 Personen können an dem epischen Drehturm ziehen.

Wir natürlich mittendrin. Gebetsmühlen sind meist hölzerne oder blecherne Walzen mit Gebeten und Mantras, die von Mönchen oder Passanten gedreht werden und sollen an das Antreiben des Rads der Lehre durch Buddha persönlich erinnern.

In einem tiefen Loch
Wir wollen die spektakuläre Berglandschaft rund um Shangri La erkunden und stoßen auf einen Ort namens „Grand Canyon“. In den USA konnten wir seinen großen Namensvetter nicht besuchen, also statten wir seinen kleinen Bruder in China eine Visite ab. Flugs fahren wir die 30 Kilometer bis zu dem Naturwunder. Am Eingang müssen wir in einen Bus wechseln, der uns tief hinein zu verschiedenen Stationen entlang des vom Fluss Gangqu durchflossenen Canyon fährt. Schroff ragen die Berge auf, tief hat sich der Fluss hinein geschnitten. Allenthalben gespickt mit kleinen Pagoden und Gebetsfahnen. Die Ausblicke, die wir erhaschen, sind schlicht spektakulär. Und die buddhistischen Stätten verleihen dem Ensemble eine gewisse Mystik.

Wir sind neugierig geworden auf den tibetischen Buddhismus und genießen die Zeit ohne Guides und Reisegruppe. So besuchen wir anderntags das riesige Kloster Ganden Songtsenling, das 1679 vom fünften Dalai Lama gegründet wurde und eine Schule der Gelug-Strömung des tibetischen Buddhismus beherbergt. Eine Vielzahl von Tempeln mit großen Gebetshallen und imposanten Buddha-Statuen zieht uns in ihren Bann. Die meisten davon sind mit reichlich Gaben von den Gläubigen umgeben, meist Essen und Getränke. Ein Buddha ist umringt von Dutzenden von Weinflaschen. Siddharta geht es offenbar recht gut…

In eisigen Höhen
Die Reisegruppe ist eingetroffen, und wir setzen unseren Weg gen Tibet fort. Immer weiter schrauben wir uns in die Höhe, immer wieder queren wir Pässe mit spektakulären Ausblicken, allenthalben überholen wir eines der uns begleitenden Wohnmobile. Die meisten davon haben eminent Probleme mit der Höhe, die schon bald konstant jenseits der 4000-Meter-Marke liegt. Auch wir spüren einen deutlichen Leistungsverlust durch die dünne Luft. Dennoch laufen die BMWs noch beeindruckend gut unter den gegebenen Bedingungen.

Wir haben auf dem Highway 318 die tibetische Grenze überschritten. Damit wechselt auch unser Guide, denn in Tibet dürfen nur Tibeter diesen Service leisten. Im Gegensatz zu Alex zeichnet sich der Neue namens Jamba in der Hauptsache durch Desinteresse, mangelnde Vorbereitung und miserables Englisch aus – zumindest dann, wenn es ihm in den Kram passt. Tom wird in der Folge mehrmals gewaltig mit ihm aneinander geraten.
Erstmals über 5000 Metern
„5130 Meter“ heißt es auf der Steinpyramide auf dem Dong Da Pass. Es ist der bis dato höchste Punkt unserer Reise. Ein wahrer „Höhepunkt“ sozusagen. Jede körperliche Anstrengung fällt schwer, den Weg über die Treppen hinauf zu einem höher gelegenen Aussichtspunkt verkneifen wir uns in unserer Kurzatmigkeit.

Wir können uns kaum retten vor Chinesen, die sich mit uns fotografieren lassen wollen. Oder mit unseren Motorrädern. Gefühlt drückt sich halb China die Nase an unseren deutschen Kennzeichen platt.
Endlich im echten Tibet
Schließlich erreichen wir den Übernachtungsort, den Agenturboss Edward auserkoren hat. Wir sind bereits gegen 14 Uhr vor Ort, idyllisch gelegen in einem tiefen Seitental auf lauschigen Wiesen und mit einem Bach durch die Mitte. Schlichtweg ein Paradies. Da der Rest der Gruppe noch mindestens drei Stunden auf sich warten lässt, starten wir auf eigene Faust tiefer hinein in das Tal. Wir passieren kleine Dörfer, zum Teil aus Lehmhütten, landwirtschaftlich geprägt.

Die Menschen hier leben mit und von ihren Yaks. Freundlich winken sie uns zu. Am Ende der Straße führt uns eine Piste weiter hinein ins Tal. Große Yak-Herden, Wasser, Wiesen und hohe, schneebedeckte Berge. Wir saugen das Szenario geradezu auf. Denn hier sind wir endlich im echten Tibet. Jenseits der großen Verkehrswege, entlang denen uns frisch gestrichene und akribisch renovierte historische Häuser eine heile Glitzerwelt vorspielen sollen. Und jenseits aller Überwachungskameras!

Yak-Fladen liegen in der Sonne zum Trocknen. Es ist der einzige Brennstoff hier oben, jenseits der Baumgrenze. Eine Horde Kinder ist auf uns aufmerksam geworden. Unsere Erscheinung scheint sie zunächst ein wenig zu verschüchtern. Merkwürdig aussehende Menschen auf Motorrädern, in Klamotten, die sie noch nie gesehen haben. Doch als Andrea eine Tüte Bonbons aus dem Koffer kramt, gibt es kein Halten mehr. Die Kleinen stürmen auf sie ein, alles hüllt sich in eine Staubwolke und nur Sekunden später ist der Inhalt der Tüte Geschichte.

Die Polizei verfolgt uns
Wir fotografieren die herrliche Natur und genießen den Sonnenschein, als Jamba anruft und uns zurück zitiert. Wir lassen uns Zeit, schießen Fotos vom echten Tibet, dass wir hier zum ersten Mal sehen. Als wir zurückkehren, kommt uns die Polizei mit Blaulicht entgegen. Auf der Rückbank unser Guide, der offenbar die Polizei informiert hat, dass wir von der Route abgewichen sind.

Wir dürfen an der von der Agentur geplanten Location nicht übernachten, weil sie für Ausländer nicht zugelassen sei. Wir müssen weiterfahren. Das fällt dem überheblichen Dilettanten JETZT ein: Dunkelheit bricht herein, es wird eiskalt, Regen setzt ein. Tom platzt der Kragen, er sagt dem „Guide“ gehörig die Meinung. 40 Kilometer weiter beziehen wir ein überteuertes Hotel, das – welch Zufall – von Bekannten des Tibeters betrieben wird.

Die Gruppe ist fuchsteufelswild
Für den nächsten Tag ist eine temporäre Straßensperrung auf der Strecke angekündigt. Deshalb lässt uns Edward die Wahl, vor 8 morgens oder nach 15 Uhr nachmittags zu starten, um die Zeit der Sperrung zu umgehen. Wir wachen morgens auf und sehen aus dem Fenster. Es hat geschneit, alles ist weiß, so entscheiden wir uns für 15 Uhr und legen uns wieder hin.

Um halb neun trommelt Jamba an unsere Tür und zwingt uns, entgegen den Aussagen seines Chefs, sofort loszufahren. Es kommt, wie es kommen musste: Als wir an der Baustelle ankommen, ist die Strecke bereits gesperrt. Wir haben geschlagene acht Stunden zu warten! Die ganze Gruppe ist auf 180, und Jamba verdrückt sich schnell, als er Tom mit gehörigem Hals auf sich zukommen sieht. In seiner Impertinenz stört es ihn nicht, die gesamte Reisegruppe an eine lange Sperrung geführt zu haben. Schließlich hat er Freunde in dem Dorf, mit denen er sich nun die Zeit vertreibt.

Nach etwa sechs Stunden fällt uns auf, dass die Streckenposten immer wieder einheimische Motorradfahrer durchlassen. Wir hingegen dürfen nicht passieren. Nach einer Weile setzen wir uns auf die BMWs, brechen durch und lassen die brüllenden und fuchtelnden Bauarbeiter hinter uns. Ohne ein großes Hindernis queren wir die Passage und fahren an unserer nächsten Unterkunft ein.

Auf dem Rest der Strecke bis in die Hauptstadt meint es Petrus nicht immer gut. Doch immer wieder fahren wir zwischen Sechstausendern hindurch und staunen über die spektakuläre Landschaft. Eine letzte Passquerung, auf der Graupel einsetzt und uns zu schaffen macht. Wir frieren wie die Schneider, doch letztlich halten wir durch bis zur Abfahrt hinunter in die Hauptstadt Lhasa. Jene ehrwürdige Stadt, Sitz des Dalai Lama, kulturelles und spirituelles Zentrum des tibetischen Volks, Schauplatz von Aufständen gegen die chinesischen Aggressoren – und eines der Traumziele dieses Planeten. Und eine Stadt, die reichlich Eindrücke bei uns hinterlassen wird. Positive und negative. Mehr dazu im nächsten Blog.
Kilometer: 94913 (+23989)
Unsere Route findet ihr wie immer hier.
Fotos:
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